Guten Morgen liebe Leute!
Neues aus Shambhala: eine weitere Szene
Ich soll für den Tsering etwas über die Tiere in der Heimat schreiben, und was er damit meint ist Tibet. Der Tsering, der spinnt wirklich! Meine Heimat ist nicht in Tibet, meine Heimat ist hier. Meine Heimat ist Shambhala! Ich versuche von Herzen, Verständnis für das Heimweh und die damit verbundene Schwermut der meisten meiner tibetischen Freunde, Lehrer und Verwandten aufzubringen, die – unterschwellig – auch auf meinem Tibetisch-Lehrer Tsering lastet. Wenn wir ehrlich sind, ist das doch Käse von gestern! Alter Käse, der nicht mehr ehrlich, sondern längst alt und klebrig geworden ist. Ich habe auch heimatliche Gefühle, aber für Shambhala, und, wie Papi, der König von Shambhala einmal gesagt hat, ist Shambhala überall und nicht nur irgendwo im Himalaya.
Ich sitze an meinem schwedischen Schreibtisch und schaue auf mein schwedisches Himmelbett, mit dem übrigens raumgestalterisch alles begonnen hat.
Es scheint so, dass die Schweden von einer ganz eigenen Verknüpfung von unfertig beziehungsweise abgenutzt in Verbindung mit Gold, Reichtum und Glanz verzaubert werden. Da gibt es wohl eine ganze Generation von Design-Profis, die Vermischungen von alt, gebraucht und überliefert mit strahlend, edel und reich erforschen. Eigentlich hat mich erst ein Gespräch mit der Blumensteckerin Dada neulich darauf aufmerksam gemacht. Seitdem denke und sinne ich darüber nach. Was ist daran so anziehend? Die Gespräche mit Dada sind übrigens etwas ganz Besonderes, obwohl ich ihr, glaube ich, mit meinen Fragen nach einer Weile immer ganz schön auf die Nerven gehe. Jedenfalls haben sie dazu geführt, dass ich ernsthaft darüber nachdenke, Design als Beruf zu wählen. Ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob man als Prinzessin gleichzeitig auch Designerin sein kann. Dada hatte da auch ihre Zweifel. Ich könnte Papa ja einfach fragen. Den habe ich aber schon seit mindestens drei Wochen nicht mehr gesehen. Er ist auf Reisen! Ständig ist er auf Reisen!! Und wenn er nicht auf Reisen ist, dann ist er in Klausur. Amala antwortet auf derartige Fragen immer so ausweichend, dass mir das überhaupt nicht hilft. Ich werde morgen einmal sehen, was Aga Hiob, mein Europalehrer, dazu zu sagen hat. Der kennt bestimmt wieder eine Geschichte zu diesem Thema, die Klarheit schafft. Er erzieht mich augenblicklich und benutzt dabei Geschichten, die ich dann wiedererzählen muss. Das ist wahnsinnig spannend. Wenn der Tsering doch nur auch so einen guten Unterricht machen würde! Papa sagt aber: „Man kann sich seine Lehrer nicht immer aussuchen.“
Also – das Holz meines Himmelbetts sieht aus, als sei es ursprünglich einmal hellblau gewesen; als habe danach jemand versucht, dies mit rauem, dickbreiigem Weiß halbherzig auszubessern und kaputte Stellen zu übertünchen. Dieses Weiß, dass scheinbar unabsichtlich unregelmäßig und stellenweise scheinbar viel zu dick aufgetragen wurde, so als habe es sich nicht gleichmäßig verteilen lassen wollen, lässt das Hellblau an vielen Stellen deutlich durchscheinen und hier und da sogar dominieren. Man könnte diese Oberflächen also leicht für Pfuscherei halten… wenn durch diese Unordnung nicht – ja, wie zufällig – ein ganz eigener Zauber entstanden wäre. Dieser Zauber ist gewollt, denn alles in meinem Zimmer – übrigens zu verschiedenen Zeiten angeschafft – hat genau diese Oberfläche: das gesamte Himmelbett sowie das Regal mit den Schubladen daneben, und mein Stuhl und der Schreibtisch, also alle meine Möbel, bis auf den Korbsessel. Überall ganz gleich: bleu, dickes Weiß, und hier und da Streifen von Gold, auf einer Art dritter Ebene, wieder so als habe jemand erneut nur halbherzig die verpfuschte Mattierung mit Weiß noch einmal überarbeiten wollen. Mit einem fingerdicken Pinsel wurde hier und da kunstvoll flüssiges Gold aufgetragen.
Auch mein Bettzeug ist – teilweise – schwedisch: weiß mit kräftigen, horizontalen, blauen Streifen. Wie gut, dass es da noch meine wunderbare bunte tibetische Tagesdecke in herrlich kräftigen dunklen Farben in Rot, Blau, Safran, Grün, Schwarz und Karmesin gibt, und das blaue Meditationskissen und all die kleinen Kisserchen in dunklen Farben.
Mit dem Bett fing übrigens alles an. Ich hatte es wohl schon geschenkt bekommen, als ich gerade mal geboren war. Ein Shambhalianer mit deutschen Wurzeln hatte es mir in seiner ersten großen Freude und seiner Begeisterung über meine Geburt – ich bin ja die Erstgeborene – geschenkt und zum Kalapa-Hof bringen lassen, wo es dann aber erst einmal fast zwei Jahre lang verpackt herumstand. Ich kann mir meine Eltern gut vorstellen, wie sie um das „Geschenk“ herumspazierten, mit großen Fragezeichen im Gesicht. Natürlich hielten sich alle – damit meine ich Sekretäre, Haushälter, Diener und Buttler und natürlich die von der Sicherheit – mit ihrer Meinung zurück. Die sagten nichts dazu. Aber ihre Minen sprachen Bände. Diese Art von Diskretion kann übrigens sehr nervig sein! Meine Kindermädchen haben das auch. Es dauert ewig, bis ich sie dazu bringe, ihre ehrliche Meinung zu Dingen und Vorgängen frei heraus zu sagen. Ewiglich! Und dabei muss ich es geschickt anstellen, sie locker zu machen und Verwegenheit in ihnen zu wecken, ihren Übermut, und sie ans Plaudern bringen. Am besten ist es immer, ich erzähle ihnen vertrauliche, persönliche Dinge aus meinem Leben. Das macht sie locker. Da zeigt es sich einmal mehr, dass es viel schwerer ist, eine Prinzessin zu sein, als es uns dieser alte Schwarzweißfilm mit der Hepburn (so sagt Amala das immer: die Hepburn…?) glauben machen wollen. Die Hepburn als Prinzessin denkt doch offensichtlich nur daran, ihre Faltenröcke oder engen Kleider im Zaum zu halten. Als ob das alles wäre, was im Leben einer Prinzessin zählt und es zu tun gibt. Ich frage mich ernsthaft, ob die auch Tibetisch lesen und schreiben lernen musste, noch bevor die eigene Landessprache dran kam? Aber halt…! Die Hepburn haben sie vielleicht mit Französisch gequält?
Ich sitze also hinter meinem hellblau-weiß-goldenen Schreibtisch, betrachte mein Himmelbett. Und wie so oft wandert mein Blick herüber auf das Blumengesteck, auf dem Regal direkt neben dem Fenster. Das Gesteck wird wöchentlich ausgetauscht. Die Gestecke sind sehr, sehr unterschiedlich, und sie tragen oft stark die Persönlichkeit der Künstlerinnen. Dieses ist von Dada. Die kann wirklich zaubern!
Die Kado-Leute – also diese „Zauberinnen“, die für die Blumen im Haus verantwortlich sind – haben immer freitags ihren großen Tag. Freitags machen die alles neu, und man trifft sie für ein paar Stunden überall am Hofe eifrig mit der Ausübung ihrer Künste beschäftigt, äußerst konzentriert dabei, irgendwie heiter leuchtend. Oft machen sie sich sogar im Garten zu schaffen. Sie dulden im Palastbereich keine einzige Pflanze, die nicht irgendwie aufgeweckt und getrimmt worden ist. Ihr Motto scheint nicht zu sein: „Disziplin ist Freude“, sondern eher „Disziplin ist Schönheit“.
In meinem Zimmer gibt es immer nur ein einziges Blumengesteck. Das soll besonders schwer und erdig sein. Weil ich die Prinzessin bin? Sie sind der Meinung, dass eine Prinzessin von Natur aus zu viel „Himmel“ hat, und dass Blumengestecke in ihren privaten Räumen daher schwer sein müssen und nach unten ziehen? Ja – ein bisschen spinnen die schon! Steine die – obwohl klein – wegen ihrer besonderen Gestalt an Felsbrocken erinnern. Vasen aus dickem, festem Material, so wie zum Beispiel aus rostigem Metall oder aus Granit, in den ein weites Loch gebohrt wurde. Schwer, schwer, schwer! Und dicke Blüten: knallrote Margaritenblüten, zum Beispiel. Schnäbelnde Krokusse. Naja…, ich rede ihnen nicht rein, sondern ich frage nur: „Wie heißt diese Pflanze?“ oder „Wo kommt sie her?“. Und mit diesen Fragen, die sie wirklich sehr sehr häufig nicht beantworten können, hole ich sie herunter und gehe ihnen wohl ziemlich auf die Nerven. Und ich frage mich: Wer zieht hier eigentlich wen runter vom Himmel auf die Erde?
Vom Schreibtisch aus schaue ich ständig und immer wieder auf das Gesteck. Es ist, als runde es meine Kanten und als fülle es meine Kräfte und Würden. Manchmal brennt es, manchmal beißt es und oft ist es Balsam auf den Rötungen von Unruhe und Wissbegier.
Während ich also meine Hausaufgaben für meinen blöden Tibetisch-Lehrer mache, und schreibe, schaue ich immer wieder auf und lasse die Blumen und die Wohligkeit und Verspieltheit meines Himmelbettes auf mich wirken, übrigens ohne dabei in Tagträume überzugehen. Denn „das machen wir nicht“, sagt Papa. Anders als die Kindermädchen, die andauernd abwesend sind – so sehr, dass ich sie ab und zu gewaltsam in die Gegenwart zurückrufen muss. Manchmal sage ich einfach: „Hey!“ Kurz und trocken.
Jetzt klingt aus der Küche Geschrei und Zorn herauf. Da muss jemand sehr wütend sein. Es scheppern Töpfe. Eine Tür knallt und ich kann mir leider auch schon denken, wer da gerade wieder ausflippt.
Ich halte inne. Wahrscheinlich hat eine Küchenhilfe etwas anbrennen lassen oder umgestoßen? Oder vielleicht will auch einfach nur ein Salzstreuer nicht funktionieren. So eine Küche ist wie ein Vulkan in dem allmählich die Lava aufsteigt, und dann irgendwann führt eine unbedeutende Kleinigkeit zur Eruption.
Pause.
Sollte ich einmal nachsehen und die Hausaufgaben kurz liegen und ziehen lassen? Gut – die Hausaufgaben machen sich nicht selber, aber so eine Pause kann oft sehr hilfreich sein.
Durch die Tür blickt Obi Van, der Shoko-Labrador – Oberaufseher des Hauses – und zudem mein persönlicher Beschützer, gerade in mein Zimmer, was er regelmäßig tut. Er tritt nie wirklich ein, denn dazu scheint ihm mein Zimmer wohl zu heilig. Andererseits aber kann er mich von der Tür aus, die übrigens tagsüber fast nie geschlossen ist, nicht ausmachen. Und so muss er den Kopf – aber wirklich auch nur den – hereinstecken und kann mich dann in seinem rechten Augenwinkel hinter meinem Schreibtisch bei der Arbeit sitzen sehen. Dann ist er beruhigt, schaut eine Weile und zieht sich dann langsam und würdevoll wieder zurück. So ganz wird er seine Wichtigtuerei nie abschütteln können, so sehr er es auch versucht. Er versteht sich nicht als irgendein Aufpasser von vielen, nein er ist „ein Wächter“ – ein Meister seines Fachs – und als solcher verliert er auch über Geschrei aus der Küche niemals die Fassung.
Auch jetzt hebt er nur leicht das Haupt.
Gerade als er also seinen Kopf durch meine Tür steckt, um zu schauen, ob alles in Ordnung ist, beginnt das Geschrei unten in der Küche. Es ist nicht deutlich zu hören, denn die Küche ist weit weg, aber immerhin hebt Obi also leicht den Kopf. Er schätzt ab, was der Grund für die Aufregung ist und entspannt sich, als er die bekannte Stimme von André – dem Koch – ausmacht. Wenn man ihn so kennt, wie ich, und ihn genau anschaut, weiß man, dass er einerseits zwar tatsächlich abschätzt, was da in der Küche wohl los ist, ist aber andererseits jetzt alarmiert und öffnet also sein Wahrnehmungsfeld über die obere Etage, untere Etage und dann bis weit über den eigenen Garten hinaus. Und er lauscht, schnüffelt und erspürt das gesamte weite Feld des Hofes von Kalapa, und dabei bin ich bei ihm, als sei ich ein Teil von ihm. Das geht ganz einfach, wenn man es erst einmal heraus hat. Ich kann mich in Obi Van inzwischen wie in einen Radioempfänger einfühlen und jetzt merken wir beide sehr schnell, dass die aktuellen Probleme überschaubar sind und sich nichts Größeres dahinter verbirgt.
Ich lasse also ein paar Minuten vergehen, entschließe mich aber dann doch, einmal vorsichtig hinunter in die Küche zu gehen, nachdem es wieder ruhig geworden ist, und nach dem Rechten zu schauen, denn soweit ich mich erinnern kann, befindet sich auch die Amala zurzeit nicht im Haus. Mein Kindermädchen, die Hester, hängt unten mit den Bediensteten ab. Die haben einen eigenen kleinen Aufenthaltsraum – die Station, übrigens äußerst gemütlich –, und wahrscheinlich sind die vertriebenen Helfer aus der Küche jetzt auch dort und lassen sich trösten und suchen sich zu rechtfertigen. Hester denkt sicher, dass ich nichts mitbekommen habe und weiter über meinem Text sitze und lerne.
Ich schleiche also ganz vorsichtig und wie auf Zehenspitzen zur Küche hinunter, drücke vorsichtig gegen die Schwingtür, und trete ein.
Ist gar niemand da?
Zuerst ist es still und es fühlt sich wie die Ruhe nach einem Sturm an. Aber halt…!, da höre ich Schluchzen und ich folge meinen Ohren.
Ganz vorsichtig und langsam nähere ich mich weiter an. Und da sitzt er, natürlich André, mein guter, kugelrunder, lieber Onkel André, der Koch, der mich in der Vergangenheit schon so oft getröstet und beruhigt hat. Schon so oft war er mein Retter und fand immer ganz schnell einen Weg, mich zu besänftigen, wenn alles aus dem Ruder zu laufen drohte und auf die Erde zu holen.
Er sitzt auf seinem Schemel, der ihm eigentlich als Leiter dient, wenn er irgendwo nicht herankommt. Er ist nämlich ziemlich klein für einen erwachsenden Mann.
Ich nähere mich erst einmal schweigend und schlenkere dabei leicht verspielt mit den Armen herum. Das entspannt immer. Ich berühre kurz seine Schulter und setze mich dann vorsichtig auf seinen Schoß, nachdem er sich etwas aufgerichtet hat.
Nun streichele ich ihm wieder tröstend über die Schulter und lehne meinen Kopf leicht an ihn an. Er riecht eigentlich immer nach Knoblauch und Wein, und heute dazu noch nach Tränen. Wir sind sehr vertraut miteinander, und es fühlt sich ganz normal und natürlich an, ihn zu trösten. Ich fühle deutlich den Stoff seines Hemdes unter meinen Fingern, sonderbar steif und stofflich. Das verwirrt mich für einen Moment. Ein Erwachen. Für Momente vertiefe ich mich in die Strukturen dieses ungewöhnlichen Materials. Was ist das? Es erinnert mich an eine Fußmatte? Ist das Hanf?
„Ach mein kleiner Drachen. Es ist so furchtbar!“, schluchzt er. Ich wundere mich darüber, wie er mich nennt. Eigentlich bin ich stets seine „kleine Prinzessin“ – und jetzt ein Drachen? Ich frage mich, ob ich vielleicht immer Drache für ihn bin, und er mich sonst immer nur aus Respekt Prinzessin nennt? Ist das der Moment der Wahrheit?
„Ach meine lieber guter Drachen! – Warum nur…? Warum muss ich immer gleich ausflippen, wenn hier in der Küche etwas schiefläuft?“
Und ich glaube, dass er das nicht so einfach selbstmitleidig schluchzt, sondern, dass das eine wirklich echte Frage ist.
„Du musst wissen, dass ich immer – ja, immer – wenn ich mit der Arbeit beginne, vor dem Küchenschrein ein Opfer bringe, und immer – ja immer – bezeuge ich meinen Respekt vor dem Bodhisattwa Manjushri, indem ich das „Rad der Weisheit“ – das ist eine kurze zweiundzwanzigzeilige Manjushri Praxis – lese und zu verinnerlichen versuche. Ich praktiziere fast immer aus tiefstem Herzen, ganz aufmerksam, und ich spüre Manjushri und wie ich wacher dabei werde und klarer. Und trotzdem flippe ich hier in dieser Küche immer wieder und zwar urplötzlich furchtbar aus und mache mich“ – er zögert einen Moment bevor er fortfährt und schaut mich vorher kurz prüfend an – „selber zum Affen? – Wo ich gerade genau das doch wirklich nicht will!“
Ich streiche dem lieben Onkel André – meinem Sancho Panza – über die Schultern und lehne mich an ihn. Meine Puppe Käthe habe ich oben in meinem Zimmer gelassen, sonst würde die ihn auch noch trösten. Sie hat den André auch furchtbar gern, obwohl er sie meistens gar nicht wahrnimmt. Dafür ist er aber für mich immer da. Für mich findet er meistens ein paar Minuten und immer zaubert er dabei ein Rosinenbrötchen oder sonst etwas Leckeres hervor.
Wir sind endgültig Freunde – sogar dicke Freunde!
Ich denke darüber nach, was er gesagt hat und glaube ein bedeutendes Missverständnis zu erkennen. Oft behalte ich meine Erkenntnisse für mich, aber mal sehen, wie ich das hier ausdrücken und erklären kann:
„Hör´ mal Onkel André: so geht das aber nicht. Du kannst nicht die Dämonen und Kräfte der Küche vertreiben, indem du das Licht der Bodhisattwas und Heiligen leuchten lässt. Das kannst du so nicht machen! So ganz einfach funktioniert das nicht! Weisheit, Energie und Mitgefühl der Bodhisattwas werden keinen Krieg gegen die Verstrickungen und emotionalen Kräfte dieser Küche aufnehmen. Sondern sie wecken Schlauheit und Klarheit – und das hilft dann oft zu verstehen. Aber nein: vertreiben oder gar vernichten tun sie nichts! Nein, du kannst hier nicht überwinden, was nicht zu überwinden ist, sondern es gilt, mit den Gewalten und Mächten dieser Küche Freundschaft zu schließen.
Sei nett zu ihnen! Ja – lade sie sogar ein! Bringe auch ihnen Opfer dar. Lege ihnen Speck auf den Schrein und Obst, auf einem zusätzlichen Tellerchen, und sprich sie an. Zum Beispiel mit:
Oho, ihr Mächtigen der Küche,
Heyhey, ihr brodelnden Wühler.
Um glühende Öfen,
Zischende Pfannen,
Feget, saust, zischt und schlabbert ihr.
Gemeinsam wollen wir Großes vollbringen.
Ich bin hier der Koch
Und ihr meine Geister.
Willkommen – willkommen – Heeyhoo!
Brutzeln und Kneten
Rühren und wuchten
Sengen und brennen
Willkommen ihr Wilden!
Von Herzen willkommen!
Auch euch krieg´ ich satt.
Nehmt diese Opfergaben an!
Und Amrita sei auch mit dabei!
Bleibt bei mir, umgebt mich
Und stehet mir bei!
Gemeinsam wollen wir den Heiligen und Weisen große Ehre bereiten.
Om Sumba Nisumbha, Hara Chara, Glutrot, Messerscharf, Stahlhart
Hauruck und Svaha.“
Ruhe.
Das Lied wirkt nach…
Schweigend lassen wir meine spontane Darbietung wirken. Ob ich sie schon einmal vorher gehört habe, weiß ich wirklich nicht. Ich bin selber innerlich in Verzückung erglüht und wundere mich wieder einmal darüber, was da so alles einfach aus mir hervorbricht?
André ist, seinerseits, sichtlich bewegt.
Er ist leicht zu beeindrucken.
Seine Augen leuchten Verständnis.
Wir schweigen, André und ich gemeinsam. Wir horchen in uns hinein. Wir denken nach und wir gehen in uns und aus uns hinaus. Langsam trenne ich mich von dem guten alten Freund, klettere von seinem Schoß herunter und tue vorsichtig ein paar kleine, leicht verspielte, sorglose Schritte in das weite Mysterium der Küche des Kalapa-Hofes. Das ist eine weite, wilde Welt mit ganz eigenen Regeln und Gegebenheiten. Ich tanze zum Küchenschrein und verneige mich respektvoll kurz und anschließend in die eine und andere Richtung. Einfach so, ungezielt. Wie es sich gerade ergibt.
Onkel André hat sich erhoben, legt seine Hand auf meine Schulter und macht es mir nach: Er verneigt sich tief und demütig vor dem Küchenschrein und dann nickt er mir dankbar zu.
So, jetzt muss ich aber zurück an meinen Schreibtisch in meiner „schwedischen“ Kinderstube. Vielleicht bemerkt Hester meinen Ausflug in die Küche erst gar nicht.
Ciao ciao
Euer Winni Quijote