Tashi Deleg
Guten Morgen liebe Leute!
Ich habe am 23.Januar 1974 erstmalig Shambhala-Tag – buddhistisches Neujahr – gefeiert und zwar in Südindien in der Nähe von Bylakuppe.
Ich wohnte damals in einer kleinen tibetischen Siedlung nicht weit von Hubli. Hubli liegt in der Höhe von Goa, Südindien, im Inland, von Goa aus circa 300 Kilometer östlich.
Ich war damals in dieser Siedlung der einzige Ausländer. Eine Attraktion und willkommene Unterhaltung für die tibetischen Flüchtlinge die dort angesiedelt worden waren. Die Inder im Süden gaben ihnen schon wirklich viele Rätsel auf, in ihrer unbegreiflich Verschlafenheit und Passivität. Mit dieser Lebenshaltung könnte man im tibetischen Hochland nicht einen einzigen Winter überleben. Aber auch ich – der Hippie – war für sie schwer einzuordnen. Jung und Alt bemühten sich cool zu bleiben, in etwa so wie wenn Sting, der Superstar, unangemeldet auf einer ganz normlaen Party erschiene, aber alle versuchen einerseits nicht zu erstarren und nicht albern zu werden und sich andererseits nicht die Party verderben zu lassen.
Ich war wochenlang in diesem „Camp“ – so nannten die das selber. Eigentlich waren es zwei Camps, das eine war das Camp der Mönche und Geistlichen und in dem anderen Camp wohnten alle anderen. Jedes Lager hatte eine eigene Kantine, von wo aus alle, die keine eigene Küchen hatten, verpflegt wurden. Und das waren die meisten.
Wie überall wo ich in Asien auftauchte, waren es auch hier die Kinder, die ihre Neugier unverhohlener zeigten. Und ich hatte meinerseits auch immer Spiele und Spielzeuge für die Kinder parat. Da gabe es zum Beispiel meine Blockflöte oder der spanische Lederschlauch in dem ich immer Wasser mit mir herum trug – ich glaube der bestand aus einem Schweinemagen ? -, und erinnerte stark an den Luftschlauch eines Dudelsacks. Ich versammelte dann also mit viel Hallo und Theater die Kinder um mich – wohl gemerkt, wir sind in einem super, super heißem und trockenem Südindien. Die neugierigen und ausgelassenen Kinder versammelten sich aufgeregt, weil ich ankündigte, es würde etwas Großartiges passieren. Ich bat sie näher zu rücken. Dann klemmte ich mir den Wasserlederbeutel fest unter den linken Oberarm – wackelte dabei aber mit der rechten Hand aufgeregt herum um abzulenken – sammelte dann die Aufmerksamkeit mit etwas Abrakadabra auf den Verschluss des Wassersacks,
öffnete ihn
und dann drückte ich
feste und energisch
und spritzte die Kinder – die natürlich nach wenigen Sekunden schreiend und kreischend herumtanzten und teilweise wegliefen – nass. Und dann lachten wir alle zusammen und waren einfach glücklich.
Ich glaube, dass ich für alle – nicht nur für die Kinder – eine dankbare Ablenkung war.
Zum buddhistischen Neujahr wollte mein Freund Tashi zu seinen Eltern in einer Siedlung bei Bylakuppe – hunderte Kilometer weiter südlich – reisen und er bat mich, ihn zu begleiten. Er wollte mich bei dieser Gelegenheit seiner Familie vorstellen.
Natürlich war ich alles andere als eine stattliche Erscheinung zum Vorzeigen, aber damals waren wir Hippies so exotisch für die Tibeter, dass sie ganz einfach übersahen, dass ich eigentlich nichts anderes als ein etwas ungepflegter, leicht verwirrter Jugendlicher war, in billigen und dreckigen Klamotten mit ziemlich abgetakeltem Gepäck, und eigentlich nicht so, wie sich Tibeter die Europäer – ihre wohlhabenden Wohltäter aus der paradiesischen Ferne, von denen die nagelneuen Traktoren und Nähmaschinen kamen – eigentlich vorgestellt hatten.
Die Fahrt von Hubli in den Süden war abenteuerlich und da gäbe es viele spannende Geschichten zu erzählen, aber das kann ich später einmal nachholen. Auf der Reise verbrachten wir einen Tag in einer Großstadt. Dort holte mein Freund auf einem Markt ein riesiges Bild des Dalai Lama ab, das er für seine Eltern hatte einrahmen lassen. Es war das Porträt, das man damals überall sah, aber eben in DIN-A1, also ungewöhnlich groß – ja riesig!
Eine weitere stundenlange Busfahrt, dann noch eine Weile auf der Ladefläche eines LKWs und wir hatten es geschafft. Diese Tibeter Siedlung war viel größer und eindeutig älter und weiter entwickelt, als unser Camp bei Hubli. Hier gab es schon richtige gewachsene Dorfstrukturen und viel mehr Individualität und Klassenunterschiede.
Den ersten Tag verbrachten wir im Haus eines Onkels von Tashi, einem tibetischen Arzt, der schon zu etwas Wohlstandt gekommen war und nur mit seiner Frau zusammen ein eigenes, gemütliches Steinhaus mit richtigen Fenstern und Türen bewohnte. Dort wohnte ich einem Mayong-Abend bei, der in einem richtigen Besäufnis endete. Bis in die Nacht hinein wurden wir Männer dabei von der Frau des Hauses umsorgt, bekocht und sie trug immer wieder neue Einmachgläser mit Chang (Bier) herein.
Am nächsten Tag ging es dann ein paar Kilometer weiter zu Tashis Familie. Die lebten im Verhältnis zum Onkel in ziemlicher Armut. Sie waren Bauern.
Die Begrüßung zwischen Tashi und seinen Eltern war unglaublich herzlich, aber mit wenig Körperkontakt, also eher britisch. Die Energie von Wonne und Liebe war aber dabei so dick, dass man sie hätte schneiden können. Es war eine intensive Herzlichkeit und Wärme, wie ich sie nicht kannte, glühend, sehr direkt und aufrichtig aber einfach vom Herzen her, ohne Schulterklopfungen oder ähnlichem. Sehr offen und ehrlich.
Das winzige sehr ärmliche Häuschen auf dem Familienanwesen bestand aus einem Wohnzimmer, der Küche, einem teilweise überdachten Vorhof und etwas Land drum herum und war umgeben von einer über zwei Meter hohen Hecke. Das einzige richtige Möbelstück war der eineinhalb Meter hohe Unterschrank, auf dem der Schrein aufgebaut war und dann die beiden Podeste auf denen der Hausherr und auf dem anderen etwas niedrigerem ich thronten. In der Küche passierte alles auf der Erde, auf dem Lehmboden, mit einer offenen Feuerstelle in der Mitte. Küchenmöbel gab es keine. Pötte und Pfannen waren ganz nahe beim Feuer aufgestapelt und griffbereit. Ein riesiger fünf-Liter-Wasserkessel bildete den Mittelpunkt der Küchenszene. Ein paar Löffel gab es – klein und groß – und natürlich auch Messer. Statt Türflügeln hingen Säcke vor den Öffnungen bereit, um diese wenn nötig zu verschließen.
Das Wohnzimmer hatte einen Schrein an der Südwand auf dem anderthalb Meter hohem Unterschrank. Der war mindestens zwei Meter breit, aber man sah, dass meine Gastgeber sehr einfache Bauern waren, denn es standen da eigentlich nur ein paar Opferschalen, ein paar Texte und wenige Ritualgegenstände. Im Gegensatz dazu hatte ich in anderen Haushalten, zum Beispiel bei Tashis Onkel, Schreine gesehen, die überladen waren mit Statuen von Buddhas, Bodhisattvas und Beschützern in Messing, oft sogar vergoldet.
Tashi überreichte sein Geschenk sofort beim Eintreten ganz unspektakulär ganz ohne Halo oder Theater Geschenkpapier oder Geheimnistuerei. Und Papi war total gerührt. Ich hatte ehrlich gesagt so meine Zweifel, ob er den riesigen Dalai Lama im Zentrum des Hausschreins wirklich haben wollte. Es erschien mir zu wuchtig und schwer in diesem Zimmer und es schien mir auch etwas naiv den Dalai Lama in den Mittelpunkt des Schreines zu stellen, obwohl der Vater eigentlich einer anderen Tradition des tibetischen Buddhismus angehört als der des Dalai Lama. -Solche Dinge interessierten mich sehr und ich beobachtete aufmerksam. – Aber dieses Bild war das Geschenk seines großen Sohnes, und er war stolz auf seinen Jungen und überhaupt ist der Dalai Lama der König von Tibet und so hing Vater das Photo strahlend und glücklich über den Schrein und seine wundervolle, unendlich demütige und bescheidene Frau schaute gerührt zu und weinte ein paar Tränen in eine Ecke ihrer Schürze. Es war wunderschön hier herzlich, direkt und warm.
Rechts neben dem Schrein war ein Fenster, oder eher wohl eine Öffnung, denn es gab weder einen Fensterrahmen noch Glas und nur von außen konnte man eine Lade vorziehen, die aber mit Sicherheit seit Monaten nicht mehr bewegt worden war. Abends, wenn der Hund die Kuh heim holte, (ganz alleine!) dann stellte die sich hinters Haus und schaute durch diese Öffnung neugierig ins Wohnzimmer. Da stand sie den ganzen Abend und kaute ein bisschen vor sich hin und guckte uns zu und ich hätte mich nicht gewundert, wenn sie irgendwann auch einfach einmal einen Kommentar abgegeben hätte.
Der Hund lief viel herum, aber sein Lieblingsplatz war in der Küche, oder er lag auf der Schwelle zum Wohnzimmer. Einmal schlug er an, weil sich eine Kobra durch die Hecke schlängelte. Die Schlange hatte darauf hin Angst sich zu rühren, weil sie – von dem Hund aufgespürt und in ihrer Ruhe gestört – nun nicht wusste wohin. Und wenn Kobras sich verteidigen müssen, dann werden sie sehr gefährlich, denn sie können sich blitzschnell bewegen. Die Tibeter hatten keine Angst vor den Kobras, von denen es übrigens sehr viele gab. Tashi – der immerhin auf einer englischsprachigen, kaufmännischen Hochschule gelernt hatte – erklärte mir, dass die Geistlichen sie vor den Schlangen schützen und die den Buddhisten deshalb nichts tun würden. Es bestünde eine Art „deal“ zwischen den Schlangen und den buddhistischen Meistern.
Gegenüber vom Schrein war das Podest des Vaters, mindestens eineinhalb Meter hoch. Mit einigen tibetischen Teppichen darauf, und links von ihm war ein Regal aus Holzbrettern und Ziegelsteinen, überquellend von Blockdrucken -also Texten- und einigen Ritualgegenständen wie zum Beispiel Vajra und Ghanta, Zimbeln, mehrere Malas – das sind Rosenkränze – und Holzgefäßen für Kräuter, Salben und ähnlichem.
Ich hatte einen Ehrenplatz des Gastes nicht weit vom Fenster auf der rechten Seite des Zimmers. Mein Podest war nur einen Meter hoch, auch mit einem Teppich und ein paar Decken, und hier schlief ich auch. Ich war also fast so gut gestellt, wie der Herr des Hauses selbst. Zu meiner Linken kam dann bald die Türöffnung zur Küche. Hier auf der Schwelle saß die Frau des Hauses, wenn sie nichts zu tun hatte, und drehte ihre Gebetsmühle und rezitierte wohlklingende, magische Mantras. Sie schien sehr traurig zu sein, aber dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, leuchtete sie von Liebe und Glück wenn sie betete. Tashi Deleg (also „Freude und Glück“ – nicht etwa Seligkeit und Glück sondern schwere, erdige „Freude und Glück“ – buddhistisch eben).
Dann gab es noch Tenpa, den jüngsten Sohn, der wie ein Äffchen überall herum sprang. Der war erst fünf oder sechs. Selbst wenn sein Vater gerade heilige Texte rezitierte kletterte er auf dessen Buckel herum und sprang und turnte ständig zwischen der Küche und dem Wohnzimmer hin und her. Und dann versuchte er ständig mich zu veräppeln. Tibeter lieben es, sich über einander lustig zu machen und zwar sehr übermütig und hemmungslos, und auch viele erwachsene Tibeter haben diese Angewohnheit. Ich will diese wilde Art nicht verherrlichen, es ist befremdlich, aber ganz einfach im Rahmen der tibetischen Gemeinschaft doch irgendwie ganz passend und gar nicht so gemein und nie wirklich böse. Wer es nicht kennt, wundert sich über die scheinbare Boshaftigkeit, aber so ist es ganz einfach nicht gemeint. Ich habe nie erlebt, dass Betroffene wirklich von dem Gelächter und der Schadenfreude tief verletzt waren, selbst dann nicht, wenn sie lammentiert haben oder sogar geweint.
Jedenfalls, wenn Tenpa übertrieb, dann griff seine Mutter ein und bremste ihn.
Quer durch das Wohnzimmer waren diagonal zwei Drähte gespannt und daran trockneten Fetzen von rohem Fleisch. Das frische Fleisch wurde da einfach dran gehangen und so wurde daraus Trockenfleisch und zwar in verschiedenen Stadien des Trocknungsprozesses. Auf dem Draht, der dem Schrein am nächsten war, hingen die ältesten Stücke. Ab und zu ging der Herr des Hauses, suchte das schönste Stück, riß etwas davon ab, und reichte es mir, dem Gast. Und meine Leserschaft wird es sich vielleicht nicht vorstellen können, aber in der südindischen Trockenheit kann man Fleisch so aufbewahren. Und es war ganz einfach köstlich so roh, obwohl ich eigentlich Vegetarier war. Wenn Amala Fleisch brauchte, bat sie ihren Mann darum und der erhob sich, prüfte sorgfältig und wählte dann aus den mindestens fünfzig Stücken in verschiedensten Formen und Größen, ein paar geeignete aus und gab sie ihr. Die kamen dann in die Suppe. Dieses Fleisch war sozusagen das Kapital der Familie, oder man könnte sagen: das Haushaltsgeld.
Ich habe selten so ein einfaches Leben geführt, wie dort.
Früh Morgens wenn der Vater sich erhob, setzte auch ich mich auf und begab mich in den kreuzbeinigen Yogasitz, wovon der Gastgeber zweifellos beeindruckt war, denn das konnte er nicht und so setzten sich auch eigentlich nur Yogis. Er rezitierte seinerseits dann das Tibetische Totenbuch, denn das hatte ihm sein Lama geraten, weil er gerade seinen ältesten Sohn verloren hatte. Davon hatte mir schließlich Tashi erzählt, damit ich verstehen konnte, wieso die Eltern ab und zu einfach schluchzten und für Momente so mutlos schienen. Der Älteste, und die Hoffnung der Familie, denn er hatte von seinem Vater das Bauernhandwerk erlernt, der war vor wenigen Wochen bei der Feldarbeit einfach umgefallen und dann eine halbe Stunde später verstorben. Ich dachte an die Kobras, sagte aber nichts. Mein Gastgeber und seine Frau waren von der Trauer tief gezeichnet. Sie waren sehr verzweifelt – ja, sie schienen manchmal geradezu lebensmüde. So rezitierte er also morgens das Totenbuch, weil der Guru der Familie ihm das aufgetragen hatte. Die Rezitationen dauerten etwa eine Stunde, und ich las ganz aufrecht sitzend in meinen Sammlungen von religiösen Texten, versuchte diese zu kontemplieren und auch zu meditieren. In dieser Zeit fachte die Mutter in der Küche das Feuer an und setzte den riesigen Wasserkessel auf, damit der Tee fertig war, sobald auch wir soweit waren. Manchmal gab es auch schon während der Morgenandacht Tee. Das fand ich herrlich. Tashi war eigentlich wenig da, weil er bei Freunden schlief, die er lange nicht mehr gesehen hatte.
An dem Schrein gab es auch ein paar kleinere Fotos, und davon fiel eines ganz besonders auf. Ich war wirklich begeistert, denn das war nicht die Art Photographie eines freundlich und verbindlich lächelnden Heiligen, so wie dem Dalai Lama und anderen, sondern das hier war die Photographie eines mürrisch schauendem, grimmigem, tibetischem Geistlichen offensichtlich von sehr hohem Rang, der obendrein auch noch eine dunkle Sonnenbrille trug. Mich erinnerte er sehr stark an einen Mafia Paten mit seinem dicken Kopf. Vielleicht war er ja auch etwas Vergleichbares? Das war wirklich provozierend, sich so fotografieren zu lassen. Aber andererseits strahlte dieser Geistliche Macht aus und war ehrfurchteinflößend. Für einen Moment vergaß ich zu atmen und verneigte mich leicht. Ich wusste noch nicht, dass ich gerade den ersten großen wahrhaftigen Zauberer sah, dem ich in meinem Leben begegnen würde.
Vor mir auf dem Tisch vor meinem Podest stand immer eine mit Buttertee gefüllte Schale. Sehr fettig und – ja – es war weniger Tee so wie wir ihn kennen, sondern eher eine Suppe – eine Art Brühe. Zu meinem Leidwesen wurde die Schale immer sofort nachgefüllt, auch wenn ich nur einen kleinen Schluck getrunken hatte. So dass der Tee immer ziemlich kalt war.
Dann kam der Nachmittag des letzten Tages des alten Jahres.
Alle Leute waren auf dem Weg zum Klosterhof und zwar nicht nur die von dieser Siedlung sondern auch die von mehreren benachbarten Camps.
Auf dem Weg erklärte Tashi mir, er wolle mich dem Abt der Klosteruniversität vorstellen. Damals bestand die ganze – heute riesige Universität – nur aus einem gegossenes Fundament aus dem ein paar Stahlstangen heraus ragten. Auf diesem Fundament, etwa so groß wie ein halber Fußballplatz, spielten circa fünfzig Kindermönche zwischen drei und sechzehn Jahren alt. Ich schaute im Vorbeigehen aus der Höhe auf diese Kinder hinunter und hielt inne. Die Kinder spielten und lachten und rannten herum, aber da war ein kleiner Junge unter ihnen – circa fünf Jahre alt – der war auch vergnügt, aber andererseits fast erwachsen und ehrwürdig. Sonderbar! Was war das? Er ragte so deutlich aus der Menge heraus. Ich konnte mir nicht wirklich erklären worin er sich unterschied. Er leuchtete ganz einfach – er hatte etwas Strahlendes. Und so zeigte ich auf ihn und fragte meinen Freund Tashi. Ich zeigte ihm genau, wen ich meinte, aber das war eigentlich gar nicht wirklich nötig, denn der wusste sofort was ich meinte. Dieser Kleine sei die Reinkarnation des vorherigen Abtes des Klosters, und des ehemaligen Gurus von Penor Rinpoche, des jetzigen Abtes und Begründers dieser neuen Klosteruniversität. Ich war von dem Kleinen ganz verzaubert und wollte gar nicht mehr weiter gehen, aber mein Freund zog mich, denn er hatte etwas mit mir vor. Ich nahm mir aber die Zeit ganz feierlich und etwas pathetisch zu mir selbst nachdrücklich zu sagen: „Jetzt habe ich keine Zweifel mehr daran, dass erleuchtete Meister wiedergeboren werden können“.
Mein Freund zog mich weiter und auf ein kleines Hexenhäuschen zu, und dabei wurde er zunehmend aufgeregter je näher wir kamen. Schnell erklärte er mir, dass ich diesen bedeutenden Abt jetzt persönlich treffen könne, und ich brauche keine Angst zu haben: der wäre mit Westlern vertraut. Dabei wurde er selber aber immer unsicherer! Ich glaube er sprach zu sich selbst.
Viele Menschen standen links und rechts Spalier zur Eingangstür dieses kleine Häuschens, die sich gerade als wir kamen auftat und heraus trat Penor Rinpoche – der mürrische Heilige mit der Sonnenbrille vom Foto auf dem Familienschrein meiner Gastgeber (!) – und bewegte sich langsam und bedacht wie ein Elefant ins Freie. Ich stolperte und stand direkt vor ihm. Ich stand also plötzlich ganz unerwartet erstmalig direkt vor einem dieser mächtigen Meister des tibetischen Buddhismus, von denen ich schon so viel gelesen und gehört hatte. Penor Rinpoche schien ebenso überrascht, dass da jemand in seinem Weg stand.
Er war offensichtlich mit den Gedanken ganz woanders.
Er war in sich gekehrt und er schwebte irgendwie, wie eine dicke, massive, dunkle Wolke.
Wenn nun aber jemand plötzlich so vor ihm stand, dann meistens, um seinen Segen zu erbitten. So veranlasste Rinpoche – wie aus einer anderen Welt – und aus Routine, seine rechte Hand, die nach unten hing, sich ganz leicht zu heben. Mit der Linken hielt er die Tücher seiner Gewänder und schien dabei völlig abwesend. Ich kannte diese Geste der Hand nicht. Ich hätte nun mein Haupt ganz tief senken müssen, also quasi mit meinem Kopf unter diese Hand drunter kriechen, um durch diese Berührung seinen Segen zu empfangen. Aber Tashi hatte mir doch erklärt: „Rinpoche kennt viele Westler und deren Sitten und Gebräuche.“ Und also griff ich stattdessen nach dieser Hand, packte sie deftig und fest, hob sie nach oben und schüttelte sie heftig. Handshake halt.
Eine atemlose Pause. Wirklich! Alle hielten für einen Moment den Atem an.
Mein Blick wandte sich Penor Rinpoches Augen zu, und was jetzt geschah ist eigentlich unbeschreiblich: Ich erschrak. Es war als würde ich in einem tiefen dunklen Raum versinken, mich vertiefen, an die Dunkelheit gewöhnen und dann wie von einem Wirbelwind mitgerissen werden durch viele Kammern und Räume. Ich verlor den Boden unter den Füßen. Wo war ich? Wie und wer? Was geschah da gerade mit mir? Gleichzeitig war es mir, als hätte ich meinerseits Rinpoche ebenfalls überrascht und aus einer ganz tiefen, heiligen und mächtigen Trance gerissen, und als sei er erwacht und zwar in mehreren Schritten. Er schaute mich irritiert und ich glaube sehr sehr ärgerlich an. So als hätte ich das Schild: „Bitte nicht stören“ und „Starkstrom“ „ACDC“ einfach ignoriert und angeklopft – und er macht die Tür schlecht gelaunt auf und fragt: Was willst du kleiner Vollidiot? Kannst du nicht lesen?
Zu meiner Entschuldigung kann ich nur sagen, dass ich ja völlig unfreiwillig in diese Situation geraten war, regelrecht hinein gestolpert. Tashi war schuld!?
Für einen Moment stehen wir uns sprachlos gegenüber. Mein Freund interveniert und erklärt ich sei ein deutscher Freund und sein Gast. Ich hatte Rinpoches Hand los gelassen. Die Zeit zögerte für einen Moment und dann wandte Rinpoche sich einfach kommentarlos ab und ließ mich wie einen begossenen Pudel stehen. Und zwar so kommentarlos, dass unwillig sogar schon eine zu starke Bezeichnung wäre.
Nicht sehr viel später begann der klassische Schwarzhuttanz und eben dieser Rinpoche erschien in dem berühmten einzig für dieses Ritual kreiertem Brokat-Gewand, oder besser eigentlich Kostüm, und er zelebrierte den Schwarzhut-Tanz derartig kunstvoll und übermenschlich, dass mir wahrscheinlich die ganze Zeit über der Mund weit offen stand. Das war Oper. Das erinnerte an Wagners Mysterienspiele. Und doch hinken alle diese Vergleiche wie der pferdefüßige Mephisto.
Er wiegte sich in dem riesigen, sehr schweren Kostüm unten im Klosterhof im Zentrum einiger anderer übermenschlich groß erscheinenden Maskentänzern. Es war das erste Mal, dass ich diese Art von religiösem Zauber erlebte. Weit über tausend Tibeter standen drum herum. Denn alle waren da um sich rituell vom alten Jahr zu verabschieden aber auch um den berühmten heiligen Meister sozusagen „on stage“ zu erleben.
Im Zentrum des Mandalas tanzte Rinpoche maßlos, ein behäbig wankender Riese, fast wie ein Bär, von einem Bein auf das andere, betont langsam und gigantisch. So prachtvoll und übermenschlich! Und er bildete das Zentrum eines lebendigen mindestens vierdimensionalen Mandalas.
Es waren viele Mönche und helfende Hände um ihn herum. Mindestens zwanzig Mönche waren für die Musik zuständig, mit Trommeln, Hörnern, Becken und Zimbeln – ein magischer, ohrenbetäubender Lärm. Ich kannte das bis dahin nur von Schallplatten. Einige Mönche flitzen gebückt um Rinpoche herum, reichten Ritualgegenstände an, oder zogen das Gewand immer wieder zurecht.
Aber bald beschäftige mich zudem noch etwas anderes. Außen um das Mandala herum, um die Menschenmenge herum tanzten und sprangen einige wilde, ausgelassene Narren, in grell bunten Kostümen mit unzähligen einfarbigen Bändern, die an den Hüften hingen. Sie erinnerten nicht nur von den Farben der Tücher und Streifen her an Venedigs Narren zu Karneval. Die waren völlig außer Rand und Band. Blitzschnell und unberechenbar. Die verarschten die Leute! Und außerdem hatten diese Kerle echte Schweizer Kracher! Weiß der Himmel woher. Echte Schweizerkracher, wie wir sie auch von Silvester kennen. Diese Kracher zündeten sie und warfen sie dann einfach übermütig unten zwischen den Beinen der Menge durch. Irgendwo mitten drin explodierten die dann. Ich sprang bei jedem Knall in die Luft, aus Angst, es könnte etwas unter mir explodieren. Ich macht mir ernsthafte Sorgen um die Leute, von denen die meisten keine Hosen sondern Röcke trugen, und auch um mich selber in meinem dünnen, indischen Höschen! Wahrscheinlich umschloss ich meine edelsten Teile zur Vorsicht mit den Händen.
Rinpoche bewegte sich inzwischen auf einen hohen Scheiterhaufen zu, etwa hundert Meter vom Klosterhof entfernt. Einer der Mönche buckelte neben Rinpoche her und hielt ihm ständig einen Text ziemlich nahe vor die Augen. Und während der Hohepriester selber in tänzerischer Grazie voran schritt, rezitierte er laut und deutlich was er las. Und dabei bewegte er sich durch dichten und beißenden Qualm und Rauch. Es krachte und qualmten, mehrmals bedrohlich nahe an seinem Gesicht, Feuerwerkskörper! Du meine Güte! Und ich übertreibe nicht! Ich fragte meinen Freund, ob man Rinpoche nicht helfen müsse, und was das denn solle?! Aber der meinte gelassen, es gäbe Nichts, was Rinpoche in diesem heiligen Ritual etwas anhaben könne. Aber daran hatte ich größte Zweifel! Ich nahm mir aber vor, darüber später in Ruhe nachzudenken.
Und es ging noch weiter! Rinpoche warf mit kräftigen Würfen Farbbeutel auf den Scheiterhaufen. Dann beschwor er den Haufen mit Formeln und Sprüchen auch mit Surren und Pfeifen, Flüstern und Lachen. Schließlich schoss er mit einem Zeremonienbogen – also Pfeile und Bogen, so klein wie ein Spielzeug – kleine Pfeile auf eine mit Papier bespannte Raute, die oben aus dem Scheiterhaufen heraus ragte. Und er traf! Ich konnte es nicht glauben. Er traf! Vier Schuss und zwar fast ohne hinzuschauen, mit fließenden Bewegungen, ganz ohne zu zögern, und dabei rezitierte er weiter aus diesen Texten. Und er traf unten links, oben links, oben rechts, unten rechts ! ? ? ! !
Wie gesagt: Für mich war es das erste Mal!
Als Rinpoche und die Mönche längst gegangen waren standen viele Tibeter noch um den brennenden Scheiterhaufen herum und schienen Hass und Wut darauf zu entladen. Zum Schluss kam noch ein Bauer mit seiner Flinte gerannt und schoss eine volle Ladung in den Haufen. Danach löste die Gemeinschaft sich allmählich auf.
Es wurde mehrere Tage gefeiert, gespielt und sehr viel Chang – Bier – getrunken, und ich wurde eingeladen und war überall ein gern gesehener Gast und geduldig führte man mich in die Bräuche und Sitten ein. Danke Leute!!
Vielen Dank ihr lieben Leute!! Ihr seid wundervoll!!! Tashi Deleg euch allen am heutigen Tage!
Und euch auch Allen einen freudvollen Shambhala-Tag.
Und ein glückliches, segensreiches und vergnügtes Jahr des Feuer – Vogels
Ciao ciao
Euer Winni Quijote