Guten Morgen liebe Leute!
Der Sinn des Lebens ist Mitgefühl?!
Wir Buddhisten gelobe irgendwann einmal auf dem Pfad des Dharma, das Wohl aller anderen Wesen vor das eigene zu stellen. Man folgt dem Beispiel der Bodhisattvas. Vielen Menschen erscheint das absurd. Wie könnte denn das Aufgeben eigener Interessen der Sinn des Lebens sein? Was hat der Sinn des Lebens für einen Sinn, wenn es einem selbst nichts bringt?
Ich pflege seit ein paar Jahren meine 95-jährige Mutter, und natürlich reden wir manchmal auch über den Tod. Sie ist aus tiefstem Herzen Katholikin, aber rheinländisch katholisch, was bedeutet, dass sie die Evangelien zwar kaum kennt, sich aber Gott und Kirch von Herzen her eng verbunden fühlt. Und die Kirchenlieder kennt sie auswendig. Ich sagte vor ein paar Jahren einmal etwas neckisch zu ihr, sie brauche vor dem Tod doch keine Angst zu haben, da sie sich doch ihr Leben lang ausschließlich um das Wohl Anderer gesorgt habe. Daraufhin wurde sie richtig wütend und sagte erbost:
„Ich habe auch gelebt!!“
Diese Reaktion fand ich erst einmal äußerst witzig, dann aber richtig hintergründig, und sie gab mir zu denken. Das wollte ich wiederholen. Ein paar Wochen später sagte ich es also wieder zu ihr. Sie antwortete auch genau gleich: „Ich habe auch gelebt!“ aber ruhiger und nachdenklich. Und so ging es weiter, und die oberflächliche Neckerei begründete einen weit reichenden Richtungswechsel in unseren Gesprächen. Unsere Beziehung ist ehrlicher geworden und auch reflektierter in Sachen Religion, Philosophie und Sterben.
Aus buddhistischer Sicht besteht jedes Wesen im Grunde aus Weisheit und Mitgefühl, die aber von der großen samsarischen Verwirrung verdunkelt werden. Von „großer Verwirrung“ zu reden, ist eigentlich nicht so gut, denn es geht ja um die Verkettungen von Billionen von kleinen Verwirrungen die zu dem Knäuel geworden sind, der für uns so selbstverständlich und konkret ist, nämlich das was wir für uns selbst halten und was wir nicht loslassen wollen, nicht einmal wenn wir sterben. Das schöne ist, dass kein Knäul so dicht ist, dass nicht immer wieder das Strahlen der Sonne von Gutheit und Mitgefühl durchbräche. Man kann sich Mitgefühl als Lampe eines Filmprojektors vorstellen und unsere Verwirrungen sind die Geschichten auf den Filmstreifen und die Verkettungen macht das Zelluloid. Wir Stellen unsere Gedanken, die Filme, nicht in Frage, sonder wir sind sie selber, wir identifizieren uns damit und wollen sie um jeden Preis aufrecht erhalten.
Das hört sich vielleicht düster und hoffnungslos an, aber tatsächlich passiert ja in unseren Leben täglich unheimlich oft Gutheit, Glück, Humor und Liebe. Wir genießen Liebesfilme, weil unsere Gutheit dabei erweckt wird, besonders an den traurigen Stellen, oder wenn es ergreifend wird und wir weinen müssen. Da strahlt unbeschränktes Mitgefühl in Schönheit und Glanz. Wenn wir über die Straße gehen und jemand lächelt uns an und es trifft unser Herz. Welche Freude! Gestern kam mir eine Frau entgegen und wir bewegten uns zur selben Seite um einander aus zu weichen, und dann dasselbe noch einmal auf der anderen Seite. Und wir mussten spontan lachen und das hat Freude gemacht. Einfach aber tief berührend. Wir hatten es beide eilig und waren auf unserem Trip, und dann wurden wir plötzlich herausgerissen und es war so frisch und schön. Und solche Momente passieren ständig. Da können wir einfach da sein. Frei und glücklich. Es braucht nichts weiter. Solche Momente brauchen keinen Kommentar. Es ist einfach Wachwerden und weiter nichts. Und das passiert ständig. Wir brauchen also nicht um Mitgefühl zu ringen, sondern es geht darum es zu zu lassen und uns selbst los zu lassen. Wenigstens für Augenblicke.
Samsara besteht für jeden von uns aus Billionen von Verwirrungen und in den Schriften heißt es, dass es vieler Wiedergeburten bedarf, in denen man sich angestrengt darum bemüht, die Verwirrung aufzulösen und zu überwinden, um schließlich wirklich Erleuchtung zu erlangen, also sich völlig zu befreien. Aber das ist kein Grund zur Verzweiflung, denn schon jetzt sind Liebe, Mitgefühl, Frische und Schönheit, jederzeit da und erfahrbar. Darauf brauchen wir nicht bis zur Befreiung zu warten. Sie sind immer da, denn das ist unser Grundbestandteil unsere Grundlage. Wir schaffen es lediglich nicht uns vollständig vom Gaukelspiel der Illusionen zu befreien. Das braucht Zeit und Disziplin.
Jedoch den Pfad zur Befreiung kann jeder jederzeit und immer wieder aufs Neue betreten, selbst in tiefster Depression gibt es noch Fenster zum Licht. Denn Samsara ist löchrig.
Der BodhisattvaPfad macht uns Angst, aber eigentlich ist es gar kein bedrückender Pfad sonder herrlich frisch und schön. Es ist wie ins kalte Meer hinein zu gehen. Zuerst brennt die Kälte schmerzhaft auf der Haut, aber nach ein paar Minuten ist es wundervoll frisch und macht fröhlich. Also lieber Krieger-Kollegen und -Kolleginnen kommt rein ins Wasser!! Auch wenn wir den Boden aufgeben müssen und schwimmen lernen.
Ciao ciao
Euer Winni Quijote