Bissiger Hund

Guten Morgen liebe Leute!

Der Buddhist ist stolz darauf, dass er nichts einfach übernimmt oder annimmt, was er nicht versteht. Selbst die Worte und Aussagen Buddhas werden nicht einfach geglaubt und übernommen, sondern man verinnerlicht und prüft ob das so stimmt, ohne Angst vor Enttäuschungen. Diese kritische Haltung bleibt aber oft schon nach einigen Monaten auf der Strecke, weil man von der Magie der Lieder und Texte und den Yogas so mitgerissen wird, und alles so echt und richtig erscheint, dass sich die Frische mit der man immer wieder aufs Neue schaut, ob man die Aussagen und Begriffe wirklich fühlt, versteht und begreift verliert. Hier kommt der Zynismus ins Spiel. Wenn man es sich in Gewohnheitsmustern bequem gemacht hat, dann braucht es die Aggressivität eines bissigen Hundes (griechisch: Kynismos) um sich selbst zu wecken und wieder frisch zu machen. Das verursacht Schmerzen und auch noch ausgerechnet dann, wenn es einem gerade so gut geht und man voller Freude ist. Aber es muss wirklich sein, denn sonst wird alles schleichend unscharf und Korruption und Bequemlichkeit verklären und verschmieren die Klarsicht. Es tut weh, wenn der Köter uns beißt, aber es ist segensreich und heilsam sich in allen Bereichen des Daseins, solcher Schärfe zu stellen und die Schmerzen zu spüren, nicht zuletzt auch in Partnerschaften. Partnerschaften sind extrem erhellend und von daher sehr wichtig auf dem Weg zur Erkenntnis!
Sich aufwecken und nach neuen Perspektiven suchen, das bedarf der Schärfe und Präzision eines Schwertes, des Schwertes das Prajna, die Unterscheidungskraft ist. Der Bodhisattva der Weisheit und des echten Mitgefühls, Manjushri, schwingt ein solches Schwert. In der Ikonographie ist Manjushri meistens weiß, aber der Kongma Sakyong II lehrt uns eine Form, in der Manjushri golden wie die Morgensonne ist, und in der er neben dem Schwert in der Rechten in der anderen Hand das Dharmachakra, das achtspeichige Rad der buddhistischen Lehre hält. Wunderschön ist er sanft, transparent und strahlend aber mit ganz präzisen Konturen.
Weisheit, Wissen, Zynismus, da stellt sich doch die Frage: was in uns lässt uns tun was wir tun, und entscheiden was wir entscheiden? Was genau ist das, was sich so sicher ist wenn wir uns täuschen und etwas vormachen? Welche Instanz in uns sieht klar und lässt sich nicht täuschen? Man könnte es gesunden Menschenverstand nennen. Gut! Aber das Problem ist, dass sich dieser Begriff leicht verbraucht. Der Begriff: gesunder Menschenverstand kann im Laufe der Zeit zum Beruhigungsmittel werden, zum Johanniskraut der Weisheitsuche.
Zum Beispiel, wir stolpern gerade so durch das Leben, alles läuft einigermaßen in der Spur und wir laufen mit, und dann plötzlich passiert etwas Überraschendes, so wie, dass die Partnerin erklärt, dass sie seit Monaten heimlich jemand anderen trifft! Dann wachen wir auf, suchen Halt, denn der Boden sinkt unter den Füssen weg. Ich behaupte, dass das wichtige und segensreiche Momente in unserem Leben sind, für die wir dankbar sein sollten. Natürlich können wir solche Momente nicht sofort schätzen und begrüßen, weil die Schmerzen zu überwältigend sind. Aber über viele Umwege, Gezeter, Wut, Handgreiflichkeiten, Alkohol und den abgekauten Ohren unserer Freunde und Freundinnen, besinnen wir uns früher oder später auf den gesunden Menschenverstand und beginnen allmählich wieder heilsame Entscheidungen zu treffen. Wir besinnen uns auf diese ungreifbare, unerklärliche Instanz, Prajna, hier: „gesunder Menschenverstand“ – aber Vorsicht! Prajna darf man nicht in die Enge treiben. Prajna ist offene Weite und muss offen bleiben!
Zynismus, dieser bissige Hund, kann ein Begleiter sein, der uns wach hält und der Prajna ständig neu erweckt. Zynismus könnte durchdringend wie der unerwartet Biss auf ein Senfkorn sein, der dann unser Sein elektrisiert.
Wohlgemerkt, gesunder Menschenstand ist nicht mit Vernunft zu verwechseln. Georg Grimm hat um die vorletzte Jahrhundertwende ein Buch über Buddhismus veröffentlicht mit dem Titel: „Religion der Vernunft“, und das ist irreführend, denn Buddhismus ist keine Religion der Vernunft, das ist viel zu klein und eng gesehen, bei allem Respekt vor den Arbeiten von Georg Grimm. Kommunismus ist eine Religion der Vernunft, oder Gesundheitswesen oder Demokratie, aber nicht der Buddhismus. Typisch für Religionen der Vernunft ist, dass sie sich selber niemals als Religion sehen können. Wenn man etwas Knappes, Treffendes für Buddhismus sagen will, dann besser „Religion des Nichtwissens“, denn es sind die Momente des Nichtwissens in denen die Klinge von Prajna präzise schneidet, glatter und schnörkelloser als das präziseste Samuraischwert. Die Momente in denen wir alles loslassen, völlig frei sind von Meinungen und auch von Vernunft, unendlich weiter offener Raum, das sind die Momente in denen die reine Erkenntnis von Prajna passiert. Nur in solchen Momenten des Nichtwissens kommt ein Scheibenmensch auf die Idee, dass die Erde vielleicht wie eine Kugel ist, obwohl alle anderen Menschen gerade in der Erde-als-Scheibe-Sicht befangen sind. Aber Vorsicht!! Wenn wir Zynismus, den bissigen Aufwecker zu weit treiben, dann werden wir statt zu wachen, offenen Bodhisattvas zu bösartigen Bestien. Zynismus ist mit höchster Vorsicht zu genießen!! Zynismus kann eine hässliche Gewohnheit werden. Denken wir nur an die Künstler Avantgarde der Sechziger und Siebziger! Wahrscheinlich gibt es solche Moden heute auch noch: gepflegte Boshaftigkeit und Zerstörungswahn. Zerschmetterte Gitarren und Kunstwerke. Sich selbst ein Messer in die Hand hauen. Also wenn nicht so, wie aber dann?! Wie kann man mit Zynismus umgehen, wie dosieren? Ich denke die Antwort ist, dass es immer ganz gut ist, eine Handvoll Senfkörner in der Tasche bereits zu halten, und vielleicht auch immer in den Zahnlücken ein paar zu verstecken, so dass man ab und zu unversehens auf eines beißt. Der Überraschungsmoment ist wichtig!
Aber unbedingt haben wir in der anderen Tasche die Romantik in der Form von flatternden Schmetterlingen, orangenen Nelkenblüten, Reiskörnern, Rosenkränzen und Blütenpollen. Ihr habt bestimmt schon gesehen, wie man einen Guru in Indien willkommen heißt, indem man ihm Girlanden aus jeweils hunderten, orangenen Nelken opfert, die er dann als Schmuck um den Hals trägt. In Tibet, wo es nicht einen solchen Reichtum an Blüten gab, wurden daraus die Kataks, das sind diese weißen Seidenschals, die zum Beispiel auch dem Dalai Lama ab und zu von Politikern überreicht werden. Buddhistische Heilige nehmen das Opfer an, indem sie den Schal berühren, legen sich die Katak dann aber nicht selber um, sondern stattdessen dem Schüler oder Gastgeber um den Hals. Dies alles ist Ausdruck von Begegnung, Berührung, Liebe und Verbindung. Geschenke machen. Ich liebe Sie. Sie sind uns willkommen. Und auch hier ist es wie bei den Senfkörnern, dass jedes Blütenblatt einen tiefen spirituellen Moment symbolisiert, den Moment des Aufflammens von Liebe. Es geht dabei nicht um den ganz großen Moment, um die wenigen Male in deinem Leben, zu denen die Liebe zu einer bestimmten Person aufflammt, und dich wie ein Pferdetritt umhaut, sondern es geht um diese kleinen Hüpfer die das Herz viele Male am Tag macht, die Hüpfer, die uns veranlassen zu lächeln oder zu lachen, oder auch zu necken und zu streicheln, zu umarmen und zu küssen. Flammen von Glück. Die treffen nicht nur Romantiker sondern schlicht und einfach jeden Menschen, auch die, die sich für sehr nüchtern halten, wie etwa diesen Georg Grimm. Mir ist es wichtig, dass ab und zu ein Heiliger oder eine Heilige mein Herz berührt, und deshalb habe ich in meinem Zimmer Bilder von Trungpa Rinpoche, meinem Guru, an der Seite seiner Frau Lady Diana, dem Sakyong Mipham Rinpoche ebenfalls mit seiner Gefährtin, Jamgön Kongtrül Rinpoche, Jigmed Phüntsok Rinpoche, Rudi und Marie, etc. hängen, die mich immer wieder berühren zwischen meinen Kindern und Freunden.
Herrlich!
Woher kommt aber diese Romantik?
Wieso lachen und freuen wir uns eigentlich überhaupt?
Da stellt sich doch die Frage, wie können wir uns noch mehr verzaubern lassen? Wie können wir uns mehr von diesem Zauber zu eigen machen? Und man kennt das ja: wenn man nach dem Glück greift, dann flattert es scheu davon, wie die Schmetterlinge. Was also tun? Als Antwort könnte man ganze Litaneien von religiösen oder auch psychotherapeutischen Übungen aufzählen, die aber alle sehr oberflächlich bleiben, solange man das „Nichtergreifen“ nicht verinnerlicht.
Nicht ergreifen! Nicht besitzen wollen! Nicht festhalten!
Alles beginnt wie immer mit der Meditation, in ihrer höchsten Form, das absichtslose, einfach, aufrecht und wache Dasein. Weil das anfangs schwer fällt, kann man mit einer Technik arbeiten, sich helfen lassen. Nein, man muss sich sogar wenigstens anfangs helfen lassen!
Tja, soviel zu überschwänglich verstreuten Senf- und Reiskörnern
Ihr lieben Leute.
Macht doch einfach mit!
Lasst die Feuerzungen tanzen!
Lassen wir wir uns selber ruhig immer wieder beißen,
aber lasst den Köter bitte nicht auf eure Kinder, Partner und Freunde los, nicht einmal auf eure Feinde!

Ciao ciao
Euer Winni Quijote