Guten Morgen liebe Leute!
„Werten Sie nicht! Man braucht nicht zu bewerten!“ war jeder zweite Satz meiner Jin Shin Jyutsu-Lehrerin Mary Burmeister. Die Simultanübersetzerinnen nutzten diese Gelegenheiten immer für ein kurzes Päuschen, denn sie hielten es einfach nicht für nötig, immer wieder dasselbe zu übersetzen. Aber gerade dieses gebetmühlenartige Dont value!You need not value! war für mich eine der wichtigsten Eindrücke aller dieser Seminare, bei denen es ja eigentlich um die Entdeckung von nicht stofflichen Energien in uns und um uns herum ging, die bislang unbemerkt einen wichtigen Teil von uns ausmachen, und letztendlich dann darum Blokaden und Verspannungen in diesen Feldern und Weiten zu lösen und zu öffnen.
„Werten Sie nicht! Man muss gar nicht bewerten.“ Es geht nicht darum, ob man etwas richtig macht oder falsch, es geht darum es spontan zu tun, aufrichtig und direkt. „Die Kunst sich selber kennenzulernen“: davon sprach Mary auch immer wieder – Betonung auf „Kunst“.
Nicht nachdenken, sondern sich einfühlen und erspüren. Jin Shin Jyutsu ist Kunst so wie eine Improvisation am Klavier. Natürlich hat die Pianistin Tonleitern geübt, und Harmonielehren und Anschlagstechniken studiert. Aber wenn der reine Zauber der Musik sich entfalten soll, dann muss man alle Technik auch immer wieder loslassen, vergessen und es fließen lassen.
Es geht nicht ohne Disziplin, aber Zauber erblüht erst, wenn man sich selbst und alles was man gelernt hat vergißt. Dann können die Götterfunken tanzen.
Mary hätte auch sagen können: „Suchen Sie nicht nach Bestätigung! Es gibt keine Sicherheit!“ aber ihr Werten Sie nicht! ist einfacher und auch weiter und eben nicht so vernünftig.
Wenn etwas Unerwartetes geschieht, dann erfahren wir das nicht einfach neugierig und in unschuldiger Überraschung, sondern wir versuchen sogleich das Erfahrene irgendwie einzuordnen – Bekanntem zuzuordnen – und so in den Griff zu bekommen. An dieser Stelle könnte man sogar etwas überspitzt sagen: Wir entzaubern alles so schnell es nur geht. Wir nehmen jeder Überraschung so schnell wie möglich ihren Zauber. Wenn wir es dann geschafft haben, blickt manch einer sehnsüchtig zurück und bedauert den übereilten Zuschlag, aber dann ist es zu spät. Etwas Entzaubertem seinen ursprünglichen Esprit zurückzugeben – das ist fast unmöglich.
Zum Beispiel bewerten wir körperliche Ereignisse, die wir noch nicht kennen, sofort als Probleme, als Krankheiten, die so schnell wie möglich beseitigt werden müssen. Niemand sagt: „Ein Kopfschmerz, ach wie interessant!“
Oder zwischen Mann und Frau knistert es. Aber anstatt die erotischen Momente auszudehnen und zu genießen und sie beim Spazieren durch den Wald zu führen, sie zu vertiefen und sich tragen zu lassen, heißt es: Schnell ins Bett, bevor er oder sie es sich anders überlegt. Und dann – erst einmal im Bett – denkt man auch schon an die Zigarette danach: Habe ich überhaupt mein Feuerzeug dabei?!
Unsere Welt ist schon längst nicht mehr nur bis in die Atome, DNA, Gehirnschwingungen und die Unendlichkeiten vermessen und erklärt sondern, inzwischen regelrecht zerstörerisch flach gemacht. Überall endgültige Erklärungen, Wahrheiten und Überzeugungen – festgesurrte Paradigmen. Leider verbauen wir uns damit die Öffnungen und Berührungen zu weiteren und segensreichen Dimensionen für die es der Weiten des Nicht-ergreifens bedarf.
Das müsste nicht so sein. Die Wissenschaften und auch die Naturwissenschaften könnten ebenso gut auch viel weniger dogmatisch und dafür verspielter betrieben werden.
Reine Lust auf Erkenntnisse ist herrlich! Aber wenn sie von heimlicher Angst getragen wird, dann verschließt sie Türen schneller wieder, als sie sie geöffnet hatte. Mit derselben Geschwindigkeit, in der sie tolle Medikamente, Spielzeuge und Waffen erschafft.
Erinnert euch an Hamlet, vor dessen Augen jemand scheinbar furchtlos und stolz in den Tod geht, und Hamlets eigene Angst vor dem Tod wird dadurch so geschürt, dass er den berühmten Seufzer tut: „To be or not to be, that is the question“. Das ist sozusagen geballter Gipfel-Dualismus. Das ist auf den Punkt. Hamlet hätte ja auch sagen können: „To be or not to be, how exciting!“ oder: „To be or not to be, what an interesting question!“ Aber Hamlet ergibt sich seiner Angst. So wie wir alle Sklaven der Angst sind.
Die Naturwissenschaften fördern solch dualistisches Denken, Zweckdenken, weil es schnelle Ergebnisse bringt. Und scheinbar lässt es sich mit „endgültigen“ Antworten einfach besser schlafen. Aber: Leben wir um zu schlafen?
Ab und an gelingt es religiösen Lehrern, Dualismus mit einem einfachen Fingerschnipps aufzulösen. Kurze zweifelsfreie, einsichtsvolle Momente, kleine Erleuchtungen, aber eben auch scharf und unbequem. Und was machen wir? Wir retten uns lieber schnell wieder in die Bequemlichkeiten der Werte, Beweise und Rechtfertigungen.
Übrigens ist es längst nicht selbstverständlich, dass spirituelle Lehrer oder Therapeuten Dualismus durchschauen. Aber es gibt hier und da, ab und zu unter ihnen jemanden.
Mary Burmeister versuchte es hunderte Male am Tag: „Werten Sie nicht! Sie brauchen nicht zu bewerten!“
Man kann einüben, Bewertungen immer wieder loszulassen. Man kann das üben! Dabei könnte man sogar dialektisch vorgehen. Aber einfacher ist die Übung regelmäßiger, wert- und sinnloser aber um so kunstvollerer Meditations-, Imaginations- und Gebetspraxis, und zwar viel davon.
Sehr viel davon!
Und das geht leider nicht – das liegt so in der Natur der Sache – ganz ohne Lehrerin oder Lehrer oder wenigstens einem Gegenüber, der oder die durchschneidend sein kann, wenn es nötig ist, und überraschend. Über Texte und Bücher alleine kann man das nicht erlernen.
Meditation zusammen mit Imaginations- und Gebetspraxis funktioniert natürlich ein gutes Stück weit aus sich selbst heraus befreiend, aber wie gesagt, ganz ohne Lehrerin geht es nicht.
Es gibt in den buddhistischen Gemeinschaften rund um den Globus solche Lehrerinnen, die beibringen können, Dualismus zu durchschneiden und zu denen man obendrein auch noch Vertrauen hat, aber es gehört eine gute Portion Glück dazu, sie zu finden.
Sucht danach! Sucht gründlich und ausdauernd nach ihr!
Ich empfehle in den buddhistischen Gemeinschaften zu suchen, denn da gibt es augenblicklich die meisten.
Aber vorsicht! Längst nicht jeder buddhistische Lehrer oder Prediger durchschaut Dualismus! Vorsicht! Auch exotische Mönchskutten sind kein Garant! Schaut genau hin! und zwar sehr kritisch und wach!
Und dann führt letztendlich eine gute Ausgewogenheit von Disziplin und Loslassen zum Erfolg und ermöglicht den freien Tanz der Ekstase auf dem Parkett der Bodenlosigkeit.
Darin ist Meditation wie Kunst. Es gehört ausdauerndes Üben ebenso dazu, wie Zeiten der Spontanität und Improvisation.
Habt ihr mal die Bachinterpretationen vom Pianisten Friedrich Gulda gehört? Das ist ein gutes Beispiel für jemanden, der mit großer Disziplin geübt hat – also, ihr wisst schon, zehn Stunden am Tag von seiner Kindheit an – üben, üben und nocheinmal üben bis die Finger bluten –. Aber der Gulda, der konnte auch immer wieder loslassen.
Ich habe ihn mal in Bonn auf dem Markt gehört. Da hat er Jazz mit einer frechen, feschen jungen Schlagzeugerin gemacht. Das war spontaner Krach – irrer Chaos-Sound –, und dass er sich das als renommierter Pianist erlaubt hatte, war damals ein Skandal. Ich stand neben ihm und habe seinen Angstschweiß vor dem Auftritt gesehen und gerochen! Der war echt! Aber er hat es durchgezogen. Die beiden haben sich nackig und frei gespielt.
Dann zwanzig Jahre später bringt er seine neuen Bachinterpretationen heraus. Eine Sensation! Alten bekannten Stücken hat er völlig neue, unbekannte Seiten abgewonnen. Die Töne kullern und rollen vieldimensional rund und klar, dass es wirklich ein Wunder ist! Also, worauf ich hinaus will ist: der Tanz von Disziplin und Loslassen kann uns für den Zauber öffnen, der uns ständig durchdringt und umgibt. Wir können den unter Erklärungen und Regeln verschütteten Zauber, den die meisten von uns schon in der Kindheit verloren haben, wiederentdecken.
Instrumentelle Musik ist da ein großartiger Wegbegleiter, und Meditation ist die leise und bewegungslose Weiterführung davon…
Das ist der Weg zur Befreiung.
Hey Ho…
und Danke Mary!
Ciao ciao
Euer Winni Quijote