Guten Morgen liebe Leute!
Die tausendseitige Rudolf Steiner-Biographie von Christoph Lindenberg hat mich irre inspiriert. Diese Reise durch die Vergangenheit war bewegend und auch schmerzhaft. Steiner war ein einsamer, mutiger, unbeugsamer und wacher Krieger. Ich studiere seine Reden und Texte schon mein ganzes Leben lang immer wieder mal. Meine ersten Begegnungen mit der Anthroposophie hatte ich durch meine Patentante Margot. Sie hatte mir in meiner frühen Kindheit oft geholfen und Mut gemacht, wenn ich verzweifelt war, weil mir mein Zuhause unehrlich und grob erschien. Sie war ungewöhnlich interessiert an uns Kindern, und sie nahm sich Zeit für uns. Sie schaute uns an und machte sich dabei offen und weit und empfindsam. Das war Balsam.
Andererseits habe ich Steiner auch immer wieder arrogant belächelt, unter anderem wegen seines sonderbaren Tons, des ungewöhnlichen Satzbaus und seiner akademischen Betulichkeiten. Genauso habe ich ihn aber eben auch immer wieder bewundert. Unter Freunden haben wir seinen Stil gerne nachgeäfft. Aber dann wieder hat er mich vor Begeisterung jauchzen und auch oft lachen lassen. Jede Steiner-Phase in meinem Leben – und davon gab es einige – hat tiefe Spuren in mir hinterlassen. Er war ein geschickter Pädagoge, der einen zu neuen Blickwinkeln und Betrachtungen führen konnte und verblüffende Offensichtlichkeiten aufdeckte. Und sogar das verstaubte, trübe und eingefrorene Christentum hat er mir ab und zu zum Strahlen gebracht. Danke Rudi!
Eines seiner großen Projekte war die Entwickelung der Anthroposophischen Gesellschaft (Steiner spricht immer von „Entwickelung“. Ich empfinde das eingefügte e als angenehm beseelend). Ein leidenschaftlicher Shambhala-Buddhist wie ich stellt natürlich ständig Vergleiche zur Entwickelung der Shambhala-Gesellschaft. Tatsächlich sind sich die Gesellschaften sehr, sehr ähnlich, sowohl in Zielsetzung als auch im Stil – und leider auch in der Problematik.
Steiner war ebenfalls von der Wendezeit Hoffnung angesteckt. Er war 1900 circa 39 Jahre alt. Und damals gab es bei vielen Denkern, Künstlern und Politikern das Gefühl, die Menschen seien jetzt reif für die Freiheit. Die Zeit der Herdenmenschen die sich im Rudel in Kriege führen , und von der Presse am Nasenring führen lassen, gehe zu Ende. Die einzelnen Menschen seien jetzt aufgeklärt und schlau genug, verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen, und auch opferbereit, wenn es um das Wohl der Gemeinschaft gehe. „Reif für die Freiheit“ war ein durchaus verbreitetes Motto.
Einer der Gründe weshalb man um die Jahrhundertwende so hoffnungsvoll in die Zukunft schaute, waren die rasanten wissenschaftlichen Fortschritte und die wie Pilze aus der Erde schießenden sichtbaren Ergebnisse davon: Telefon, Kraftfahrzeuge, komplizierte Maschinen, Medikamente und Psychotherapie. Steiner war ein Kind seiner Zeit und verfolgte aufgeregt alle neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, kaufte sich oft die neuesten wissenschaftlichen Abhandlungen – zum Beispiel im technischen Bereich – und studierte und diskutiere sie begeistert mit seinen Freunden. So haben die sich damals die Zeit vertrieben. Fernseher, Iphones und so weiter gab es ja damals noch nicht. Über aktuelle techinsche Erkenntnisse haben damals die Studenten in den Wirtshäusern diskutiert. Steiner interessierten insbesondere Physik, Astronomie, Chemie, Biologie und Statik. Er war sehr schlau und begriff schnell. Er hat tatsächlich schon 1920 das Internet so beschrieben, wie wir es heute haben, so als hätte er schon damals in diese unsere Zeit geschaut. Ist das nicht wirklich verblüffend! Ich konnte mir das Internet noch vor dreißig Jahren nicht vorstellen.
Aber – ! – den Geisteswissenschaften stand er ebenso nahe wie den Naturwissenschaften. Wie Goethe fast 200 Jahre davor ja auch schon. Und Goethe kannte Steiner als Herausgeber und Verwalter von dessen naturwissenschaftlichen Schriften natürlich eingehendst.
Leider verführte der rasante naturwissenschaftliche Fortschritt die Menschen zu einem materialistischen, primitiven Hauruck-Weltbild, und die Sinne für die Geisteswissenschaften blieben dabei auf der Strecke, obwohl auch die Geisteswissenschaften um 1900 – nicht zuletzt unter dem Einfluss der Übersetzungen asiatischer Texte – mit Sieben-Meilen-Stiefeln – fortschritten, aber eben nur in kleinen Kreisen von Insidern. Steiners Vision war ein materieller Fortschritt, durchdrungen von geisteswissenschaftlicher Erkenntnis und Tiefe. Und tatsächlich gab es damals in Europa in der Philosophie, Geschichte, Psychologie, Soziologie und den Künsten bahnbrechende Bewegungen des Umdenkens.
Es wurde aber ein Problem, dass Steiner so schnell und schlau war, und seine Visionen so weit und groß, dass ihm deshalb nur wenige folgen und effektiv zuarbeiten konnten. Selbst seine Meisterschülerinnen und -schüler waren überfordert. Natürlich könnte man ebenso gut sagen, er konnte nicht delegieren. Aber Steiner wollte auch gar nicht delegieren. Er wollte mitarbeiten, zusammenarbeiten. Vielleicht fanden sich ganz einfach zu wenige würdige Meisterschülerinnen?
In unruhigen Zeiten der Veränderungen und des Umbruchs neigen Menschen zur Sektiererei, und Schüler von einer schillernden Gestalt, und einem geschickten Redner wie Steiner, erst recht. Denn in Sektiererei kann man sich verstecken und gemütlich einrichten. Mit allen Mitteln und immer wieder hat Steiner auf diese Gefahr hingewiesen, aber mit nur geringem Erfolg. Er hatte so viel Vertrauen darin, dass die Zeit für offene und selbständige Menschen reif sei – und verzweifelte deshalb manchmal an den Rückzügen seiner Schüler in die Sektiererei- . Steiner suchte natürlich mit allen pädagogischen Mitteln nach Befreiung aus dieser Klemme, aber das ist schwer. Hinter Sektiererei kann man sich so gut verstecken! Und das Schlimme ist, dass sich Sektierer ihrer Sektiererei gar nicht bewusst sind. Sichere Zugehörigkeit und Missionseifer schaffen Boden unter die Füße. Sicherheit! Man ist sich „sicher“ zu wissen, wohin man gehört. Sektierer finden in den Streitereien untereinander und gegen andere Schutz. Sie brauchen sich nicht nach außen zu zeigen und Farbe zu bekennen, sich nackig oder lächerlich zu machen, sich selbst in Frage zu stellen; sondern sie können sich 24 Stunden lang mit sich selbst und den anderen Mitgliedern in der Geborgenheit der Mittelmäßigkeit beschäftigen – genüsslich streiten und besser wissen. Man kann sich endlos um Details in Satzungen und Texten clever auseinandersetzen und profilieren. Man kann endlos öffentliche Briefe schreiben und öffentlich widerlegen und so weiter.
Die Esoterik bietet die Geheimlehren, und also pflegt man Geheimnisse und gehört zu inneren Kreisen und Logen. Man tut sich wichtig damit, zum „inneren Kreis“ zu gehören, oder man ist gekränkt, neidisch und sauer darüber, dass man nicht selber zum inneren Kreis gehört. Es tut wirklich weh, wenn man da Rudolf Steiner sieht, der seinen Schülern verkündet, dass sie frei sind und etwas daraus machen sollen, und die dann aus Angst vor eben dieser Freiheit, die natürlich offene Weite, Unsicherheit und Bodenlosigkeit mit sich bringt, sich lieber damit beschäftigen, wer was ist, sich Titel und Orden geben, Baumdiagramme erstellen, wer in der Hierarchie wo steht und intrigieren und vergiften.
Ich beschreibe das so ausführlich, weil es das ansatzweise auch in der Shambhala-Gesellschaft gibt. Denn wir sind ja dieselben Menschen. Auch wir sind Esoteriker auf der Suche nach Erkenntnis, und auch wir erschrecken immer noch dann, wenn wir die Herausforderungen und Verantwortung die die Freiheit mit sich bringt erkennen. Genauso wie Rudi weist auch Sakyong Mipham Rinpoche immer wieder neue Wege aus dieser Falle hinaus. Aber auch in der Shambhala-Gesellschaft sind die Sektierer wahnsinnig dickhäutig und andererseits geschickt darin, die Ansätze zur Überwindung der Sektiererei in noch mehr Sektiererei zu verwursten. Am besten ignoriert man solchen Quatsch, aber leider ist er nicht immer so leicht zu durchschauen.
Wir sind jetzt wieder 100 Jahre weiter und hatten ja nicht nur eine Jahrhundertwende sondern sogar eine Jahrtausendwende, und ich bin eigentlich auch in einer Art Aufbruchsstimmung bezüglich der zunehmenden Mündigkeit des Einzelnen. Immer noch! Und an die faszinierenden Produkte der Wissenschaften haben wir uns ja auch inzwischen gewöhnt. Sie sind nichts Neues mehr, und damit haben sie etwas von ihrer Faszination eingebüßt und gehören jetzt einfach dazu. Es gibt also gute Voraussetzungen für ein besseres Gleichgewicht zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Die Türen zur Spiritualität öffnen sich ja auch wieder etwas. Oder mache ich mir da etwas vor?
Ich glaube auch, in der Politik Reifeprozesse zu erkennen, und überhaupt im europäischen Gesellschaftsleben, aber die Globalisierung hat die Welt viel größer gemacht, und wir erkennen, dass immer noch fast ein Viertel der Menschheit begeistert einen einzigen Gott – den einen richtigen – mehrmals täglich anbeten, von geradezu lächerlich weltlichen Paradiesen träumen, einmal im Jahr mit großem Spektakel und Eitelkeiten fasten, und keinesfalls selbst nach Erkenntnis streben oder nach Freiheit suchen und greifen dürfen. Die Globalisierung macht diesen Menschen Angst, sie rücken zusammen und haben keine Hemmungen zu töten, wenn es darum geht Freiheit und Freizügigkeit zu verhindern. Ich fürchte, damit ist der Traum von einer Welt voller intelligenter, inspirierter, mündiger Krieger dann doch erst einmal wieder für eher noch einmal hundert Jahre ausgebremst. Hoffentlich dauert es nicht sogar noch länger.
Man könnte sich fragen, ob die Shambhala-Gesellschaft unter diesen Umständen zur Zeit zu dem Weg zu Freiheit und Mündigkeit überhaupt etwas beitragen kann. Und außerdem muss man sich auch immer wieder fragen, ob dafür ausgerechnet die Strukturen eines Königreiches geeignet sind, denn Shambhala ist ja ein Königreich. Ich sage zwar: „ja, ausgesprochen gut geeignet sogar,“ aber spielt da nicht vielleicht allzuviel Hoffnung mit hinein? Und dann man muss sich fragen, ob letztlich nicht jeder Verein und auch jede Monarchie notgedrungen eher Mitläufer erzieht, als freie Denker.
Aber da gibt es einen echten Lichtblick: Die „absichtslose, nutzen-lose Meditation“ oder auch erst einmal überhaupt Meditation. Und es ist gut, dass in den ersten Jahrzehnten im Shambhala-Mandala die Meditation und die Erforschung des Geistes im Mittelpunkt stehen. Die Übung, sich täglich für wenigstens eine halbe Stunde völlig wach hinzusetzten, ohne davon irgendein Ergebnis zu erwarten – übrigens auch keine beruhigende Wirkung auf den Sympathikus oder auf Gehirnschwingungen oder was auch immer. – Ganz regelmäßig einfach aufrecht, wach inne zu halten, und Langeweile Raum und Weile zu geben, das ist ein riesiger Schritt hin zur Freiheit, für jeden Einzelnen und für die ganze Menschheit. Das ist ein Weg sich immer wieder frisch zu machen. Vorurteile zu durchschauen. Sich immer wieder von Wissen und Erklärungen zu befreien und immer wieder den Mut zu finden, ganz neu hin-zu-schauen. Von selbst werden aus der halben Stunde zu Beginn dann im Laufe der Zeit Stunden werden und ab und zu Tage und Wochen. Aber wenn man erst einmal Frische entdeckt hat, den ersten Schreck überwunden, das Rückgrat aufgerichtet und neu gelernt zu gehen, dann ist es wunderbar zu einer Gemeinschaft von solch farbigen, vielseitigen und verrückten Kriegerinnen und Kriegern zu gehören. Ein neuer Versuch zur Freiheit.
Ciao ciao
Euer Winni Quijote