Guten Morgen liebe Leute!
„Existenz gibt es gar nicht, die hat sich jemand ausgedacht.“
Ich stelle mir vor, dass ich wieder bei meiner Kosmetikerin Marion auf ihrem Profi-Massagestuhl sitze. So in etwa, wie beim Zahnarzt. Da fühle ich mich auch immer wie ein Huhn auf einer Anrichte, das ausgenommen werden soll. Heute stecken zudem meine Füße in einer Wanne mit einer angenehm warmen Kräutersalzlösung, denn ich werde auf eine Fußmassage nach Sir John vorbereitet. Angeblich etwas ganz Besonderes, mit starken Auswirkungen auf das ganze persönliche Energiefeld, auf die verschiedenen Organströme und auch auf Blockaden im Bereich der Muskulatur und der Gelenke. Die Wirkung soll derart tiefgreifend sein, dass man diese Massage frühestens nach drei Tagen wiederholen darf!
Nun – immer schon, wenn ich in Marions Praxis eintrete – ergebe ich mich innerlich meinem Schicksal – und lasse einfach los. Ängste und Zweifel versuche ich, frei und ihrer eigenen Wege ziehen zu lassen. Gerne würde ich mich für immer von ihren zwingenden und belastenden Einflüssen befreien, aber da sträubt sich dann doch die Angst vor der endgültigen Befreiung.
Aber jetzt bin ich erst einmal frei für Unvorhersehbares und Abenteuerliches in Marions Hexenküche.
Ursprünglich war sie Alt-Philologin, und das mag der Grund dafür sein, dass sie bei der Arbeit meistens ununterbrochen plappert. Möglicherweise ist sie einfach unterfordert und kompensiert das mit ihrer Plapperei? Wobei sie auch damit jedes Mal sehr seltsame, unbekannte Saiten in mir anreißt, während sie mir ihrerseits das Gefühl gibt, ich berührte eben solche bei ihr. Selten machen mir ihre oft wirren und sprunghaften Gedanken und Träume vollständig Sinn. Aber immer entsteht sofort eine Verbindung zwischen uns, die mir noch nirgendwo sonst begegnet ist.
Sie hat ein riesiges, weit offenes und gefährlich glühendes Herz, und im Geiste mit den Armen rudernd, falle, nein stürze ich dort hinein und stoße dann in mir immer wieder auf die zaghaften Hilferufe in den dunklen Korridoren meines Seins: Ich löse mich auf! Und: Hilfe, wer oder was bin ich?
„Mir fallen nur drei Gründe ein, warum jemand auf „Existenz“ gekommen ist: Entweder er, sie oder es wurde von Angst vor Bodenlosigkeit und Weite überrascht, oder er, sie oder es langweilte sich gerade furchtbar und suchte nach einer neuen Ablenkung und Unterhaltung, oder jemand musste sich religiöser Fanatiker erwehren.“
Ich komme gar nicht dazu, zustimmend zu nicken, denn sie plappert gleich weiter und spricht mich ganz direkt an: „Ich sehe es Ihrem Gesicht hinter ihrer gruseligen Algenmaske an – sie wissen gar nicht wie komisch sie aussehen – dass Sie gleich an Shakespeares: „Sein oder Nichtsein“ denken, aber damit hat die Entstehung von Existenz gar nichts zu tun, das sind nur unvermeidliche, sehr viel spätere Auswirkungen dieses – nennen wir es – Bewußtseins-Urknalls.
Die Idee von Existenz ist eher wie die Idee von einem Auto: Niemand brauchte es, solange bis es da war. Seitdem muss es aber auch für alles und jedes herhalten: Personenkraftwagen, Postauto, Polizeiauto, Feuerwehrauto, Sportwagen, Rennwagen und so weiter und es muss andauernd gesäubert, gepflegt und repariert werden.
Ich glaube, dass wir einigermaßen sicher sein können, dass es kein Gott war, der auf die Idee mit der Existenz kam, denn für die Götter gäbe es in ihrer Selbstherrlichkeit überhaupt keinen Augenblick des Zweifels dafür. Einem Sisyphos wäre sie schon viel eher zuzutrauen. Ich halte es sogar für wahrscheinlich, dass ein eifersüchtiger Gott – Sie würden vielleicht sagen: Halbgott – dahinter steckt mit ihrer unaufhaltsamen Sehnsucht nach Selbstbestätigung und in ihrem Verfolgungswahn wäre es einem der Halbgötter am ehesten zuzutrauen.
Und damit kann man also sagen: Die Welt wurde von Halbgöttern geschaffen. Man könnte also zurecht behaupten, einer der eifersüchtigen Götter – ich nenne keine Namen, und sage dazu nur: Es kann nur einen geben! – hat die Welten erschaffen. Die Bibel hat also doch Recht.
Und irgendwann und irgendwo haben neugierige Menschen diese Idee dann scheinbar aufgeschnappt, und jetzt sitzen wir hier in unserem „Dasein“ und wundern uns, was denn eigentlich und überhaupt los ist.
Mit „Dasein“ hatte übrigens seinerzeit Meister Eckhart als erster „Existentia“ übersetzt, „Dasein“ scheint eine Neuschöpfung von Meister Eckhart zu sein, wenn ich meinem Freund Tomasi glauben darf, der seinen Magister darüber geschrieben hat.“
Sie schaut mir kurz in die Augen, während ich zum Glück wenigstens noch spüre, wie meine Gesichtshaut sich unnatürlich spannt – mehr ist nicht mehr übrig von mir – :
„Verstehen Sie, wovon ich rede?
Natürlich könnten Sie sagen: Quatsch! „Sein“ existierte schon immer, ganz anders als das Auto, das erfunden werden musste. Aber Sie irren sich! „Sein“ ist eine Erfindung und der Begriff „Existentia“ ebenso, sozusagen aus guter Absicht und als Heilmittel entwickelt: Gib der Krankheit einen Namen, dann kannst du sie besiegen, und dann kannst du mit anderen darüber reden und Erfahrungen austauschen und sie ergründen und möglicherweise überwinden.
Das Sein ist gleichzeitig mit dem Wort „Sein“ entstanden. Und vorher gab es das noch nicht. Das ist doch leicht zu verstehen, oder?
Und kommen Sie mir jetzt nicht mit der romantischen, indischen Schöntuerei „Sat-Chit-Ananda“, was man mit Seins-Bewusstseins-Seligkeit übersetzen könnte.
Das wäre unter Ihrem Niveau!
Sat-Chit-Ananda… das war vor fünftausend Jahren ein verzweifelter Versuch von Rishis in Indien, aus der Not – nämlich dem Sein, das man schon damals einfach nicht mehr loswerden konnte – eine Tugend zu machen.
Vergessen Sie die Seins-Bewusstseins-Seligkeit schnell wieder! Das ist eine hübsch ziselierte Türklinke mitten in der offenen Weite. Zu nichts Nutze!“
Nur zur Klarstellung: Ich liege hier und habe kein Wort gesagt, und soweit ich es selber beurteilen kann, nicht einmal mit den Augen gezwinkert oder die Nase gerümpft! Und von Sat-Chit-Ananda habe ich noch nie im Leben vorher gehört!!!
Andererseits weiß ich, dass Marion einige Semester Sanskrit studiert hat und vielleicht denkt, dass jeder andere „Gebildete“ mindestens die Grundlagen auch kennt.
Sie pflegt gerade ganz gründlich meine Fingernägel der linken Hand – rechts ist fertig –, und auch wenn es inhaltlich etwas aufgeregt klingt, was sie erzählt, so tut sie das doch auf ganz ruhige gleichmäßige – ja fast singende – Weise. Sie plappert und sprudelt nicht wie ein aufgeregter Bergbach, sondern wie ein ganz ruhiger, fester Fluss, von dem man erst merkt, dass er fließt, wenn man als hilfloser Käfer in einer Nussschale in dessen Mitte herumtreibt und einmal mehr lieber ein Vogel wäre.
„Ginge es Ihnen darum, auf diese Weise aus der Not eine Tugend zu machen, dann würden Sie besser LSD einwerfen, denn damit springen Sie sozusagen jedes Mal auf einen rasenden Zug der Seins-Bewusstseins-Super-Seligkeit. Die Täuschung wird dann also noch viel dichter, viel schneller und viel energetischer. Aber es bleibt Täuschung – nein – es wird so sogar zur Super-Täsuchung.
Na ja und dann eben auch noch diese Essentia! Also sozusagen verdichtete Existentia.
Viele denken ja, es sei genau umgekehrt gewesen. Da sei zuerst Materie gewesen – also ganz viel Zeug fliegt herum, weil ein Gott einen Furz gelassen hat – (um hier mit einem anschaulichen Beispiel zu arbeiten). Und durch Zufall gibt es dann nach Milliarden von Jahren in diesem turbulenten Chaos, der durch die Gegend fliegenden Massen von Zeugs, den Gedanken: Ich bin. … Ganz aus Versehen! Eine chemische Reaktion. Und damit entsteht Bewusstsein.
In Wirklichkeit war es aber die Existentia, die zuerst da war und sich verdichtet, und zwar zu den sozusagen unnötigen Tischdecken der Essentia über dem unsichtbaren Tisch des Seins. Natürlich wird ein unsichtbarer Tisch um Vieles nützlicher, wenn man eine Tischdecke darüber ausbreitet, denn so wird er sichtbar. Aber wirklich nötig ist die Tischdecke absolut nicht! Sie verhindert lediglich unter anderem viele blaue Flecken und zerbrochene Krüge.
Okay, jetzt ist es nicht mehr zu ändern, und es wird auch nie mehr ein Zurück geben. Wir müssen uns also in aller Zukunft durch Berge von Tischdecken hindurchkämpfen, durch immer wieder neue Muster, Materialien und Formen, wenn die Welt denn so entstanden sein sollte, so wie wir sie heute erfahren – ein bizarrer Haufen von Gestaltungen, Ideen, furzenden Göttern und Verdichtungen.“
„Und jetzt passen Sie einmal gut auf: Sein und Materie sind eigentlich recht Unbedeutend gegen den Zauber von Klängen und Rhythmen. Bitte beachten Sie, dass ich nicht von Klängen und Rhythmen spreche, sondern von deren Zauber! Da liegt nämlich eigentlich der Hund begraben! Im Zauber und in der Schönheit liegt der Hund begraben!
War Ihnen das jetzt zu schnell?“
Ich ringe tatsächlich hörbar nach Luft.
„Ich habe jetzt das Kapitel Zeit ausgelassen – aber das gibt sowieso, außer einem großen Unterhaltungswert, nicht viel her und ist natürlich außerdem ebenso wenig existent wie das Sein.
Aber nun zurück zur Musik. Übrigens ein überaus passendes Zusammentreffen mit der Fußmassage. Machen Sie sich auf etwas gefasst!“
Marion nimmt meine Füße einzeln aus dem Kräutersalzbad und trocknet sie ganz liebevoll mit einem gelben Frotteehandtuch ab. Sie schweigt?!
Ruhe!
Ich kann es kaum glauben und warte jeden Augenblick darauf, dass das Geplapper wieder los geht, aber nichts – Ruhe –
…
Und schweigend reinigt und pflegt sie die Füße nacheinander sehr liebevoll. Immer wieder tupft sie mit dem Handtuch, bis sie sehr gepflegt und auch vollständig trocken sind.
Und jetzt es geht los: Die symphonische Fußmassage nach Sir John.
Marion hat die Liege so verändert, dass meine Füße jetzt höher liege. Sie sitzt also unten zu meinen Füssen, die ungefähr in der Höhe ihres Bauchnabels etwas über die Liege hinausragen, also frei im Raum schweben.
Sie nimmt meinen linken, dicken Zeh ganz unten fest zwischen Mittel- und Ringfinger ihrer rechten Hand – Handfläche nach außen – dann wackelt und zieht sie erst einmal ein wenig daran – wie um Guten Tag zu sagen – und führt jetzt langsam die Breite ihres rechten Daumens an die Spitze des Zehs und lässt sie langsam rotieren. Es sind im Uhrzeigersinn drehende und vibrierende Bewegungen, die allmählich etwas schneller werden, und die an die Bewegungen eines Geigers auf den Saiten über dem Hals seines Instruments erinnert, wenn er ein besonderes, intensives Vibrato erzielen will.
Marion hält ihre Linke noch ruhig in ihrem Schoß.
Sie nimmt sich Zeit für den Ursprungston und läßt ihn frei schwingen. Sie scheint sich selber dabei etwas von sich selbst zu befreien und in eine gewisse Extase zu geraten.
Noch ist keine Saite angeschlagen. Der Geigenkörper wärmt sich sozusagen erst einmal auf.
Ein Kraftfeld baut sich auf. Für mich befindet sich meine Hexe Marion normalerweise jenseits von Erotik, aber jetzt bin ich mir nicht einmal darüber mehr so ganz sicher, woraus ihr Zauber im Ganzen besteht und wie man ihn nennen könnte.
So vergeht etwa eine Minute.
Jetzt streicht sie das erste Mal über die Saiten. In diesem Falle bedeutet das, dass sie mit den vier Fingern der anderen , linken Hand von dem strömenden Zeh aus langsam am Ballen und Spann entlang bis hin zur Ferse streicht, während ihr rechter Daumen weiter über den Zeh Energie gibt.
Ein regelrechtes Konzert beginnt, indem sie diese Streichbewegung immer wieder wiederholt und mein gesamter Körper wird davon erfasst. Die Streiche variieren, werden ´mal heftiger und aufdringlicher und dann wieder leichter oder ab und zu auch mühevoll. Alles, was ich bin, beginnt zu reagieren und mitzuschwingen. Wohl gemerkt, sie bearbeitet lediglich einen meiner Füße!
Meine anfängliche Verkrampfung und Anspannung löst sich schnell. Ich hatte zuerst etwas angespannt zugeschaut, was Marion da macht – es ist mein erstes Mal – aber jetzt lasse ich mich einfach zurückfallen in Wellen und Energiefluten
und lasse das Bewusstsein endgültig gehen
– das Seinsbewusstsein –
und die Essentia löst sich auf in eine
sozusagen Traumessentia
Das Leben ist ein Traum – und nicht einmal das –
Marion ist die Violinistin – das wenigstens kann man doch behaupten, oder –
und mein Energiefeld ist der Klangkörper, ihr Instrument
für ein völlig unnötiges kosmisches Spiel…
Sind das Engelschöre?…
Hat es hier eigentlich einen NOTAUSGANG?
Ciao ciao
Euer Winni Quijote