Guten Morgen liebe Leute!
Eine weitere Szene aus Shambhala:
Nein…! Ich werde keine Chuba tragen.
Diese tibetischen Wickelkleider lähmen mich und zwängen mich ein wie ein Kokon. Wenn es zu Aga Hiob geht, möchte ich mich frei bewegen, springen und schnell reagieren können. Amala hatte von der blöden Chuba angefangen. Sie meinte, an so einem besonderen Tag sollte ich mir etwas Feierliches anziehen. Die blonde Lester – heute mein Kindermädchen für den Vormittag – versucht auf mich einzuwirken, mich zu beschwichtigen und umzustimmen, aber damit bestärkt sie mich nur darin, auf meinem Marinekleid mit dem aufgenähten weißen Kragen und der bestickten Brust zu bestehen. Die meisten meiner Kindermädchen sind furchtbar naiv, insbesondere wenn es um Kleidung geht. Neulich erst meinte Elisabeth, für Nonnen gäbe es ja keine Kleiderprobleme, weil sie alle das Gleiche trügen?! So ein Quatsch! Es gibt so viele verschiedene Arten und Regeln für Mönche und Nonnen, ihre Tücher zu tragen, dass die dem Modekodex der weltlichen Mode nicht viel nachstehen. Eine Nonne kann ihre Roben keineswegs einfach so tragen wie sie will. Es gibt wichtige Unterschiede, wo und wie man faltet und rafft. Außerdem bestehen die Tücher aus sehr unterschiedlichen Materialien und auch die Farben unterscheiden sich. Karmesin ist nicht gleich Karmesin! Gelb nicht gleich Gelb und Orange nicht gleich Orange.Aber so ist es eben, die meisten meiner Kindermädchen sind furchtbar naiv und machen mir viel Arbeit!
Es begann alles damit, dass Papa mir feierlich verkündet hatte, er habe Aga Hiob – oder den Duke, wie Papa ihn nennt – gebeten, mich in die stille und formlose Meditation einzuführen, und dann auch weiter meine Entwickelung dieses speziellen Yoga zu begleiten und zu verfolgen. Aga Hiob ist seit einigen Monaten mein Lehrer für europäische Kulturen, und ich suche ihn zur Zeit mehrmals wöchentlich auf und habe mich mit ihm super gut angefreundet, was natürlich auch Papa mitbekommen hat.
Diese formlose Meditation scheint etwas ganz Besonderes zu sein. Das merke ich dem königlichen Papa und auch Amala deutlich an. Bisher bin ich ja in die Yogas und Übungen einfach so, fast wie zufällig, hineingerutscht. Zum einen ergibt sich das aus dem tibetischen Sprach- und Kulturunterricht, dann durch alle die Einweihungen an denen ich als Prinzessin teilnehmen muss, dann aber außerdem auch durch die Rezitationen, die wir morgens und bei Sonnenuntergang teilweise auf Englisch hersagen – also wenn wir daran denken und sie nicht vergessen, was aber nur selten passiert, weil meistens die Offizierin des Tages vorher kommt und höflich daran erinnert.
Ich kann mich in diese Texte sehr gut einfühlen, übrigens auch ganz schnell in die Rezitationen bei religiösen Feierlichkeiten und die entsprechenden Gesten und der Umgang mit den Ritualgeräten bedeuten kein Problem für mich. Ich spiele gerne elegant mit Fächern, Glocken, Hakenmessern, und Haufen von Reis und Edelsteinen. Und in diesen Texten ist wirklich ganz schön was los. Das sind für mich spannende, abenteuerliche Reisen. Zum Beispiel in die wilde Welt der Beschützerin Vetali einzutreten, ist überwältigend und ich bin gerne in ihrer Weite und ihrer lebendigen Atmosphäre. Käthe geht es ähnlich – sagt sie wenigstens – und sie genießt es, dabei zu sein. Vetali ist schrill und sie macht Käthe und mir durchaus auch oft Angst, aber diese Angst hält irgendwie wach und sie wirkt reinigend. Immer wenn wir bei Vetali waren, fühlen wir uns besonders frisch und zuversichtlich. Natürlich beschützt Vetali uns auch dann, wenn wir sie vergessen haben – also das hoffe ich wenigstens und davon gehe ich aus – aber sobald wir sie anrufen, wird sie jedenfalls ganz lebendig.
Aga Hiob hatte nicht zugesagt, mich im vollen Umfang auf meiner spirituellen Reise zu begleiten, sondern lediglich in der formlosen Meditation, Mutter und Vater aller Meditationen, zur direkten Erforschung der Natur des Geistes; nur in dieser Meditation wollte er mich unterrichten.
Das hört sich nach zusätzlicher Arbeit und nach noch weniger Zeit für meine Spiele, Kleider und Tagträume an, aber so soll es sein. Und so, wie ich bisher jede Minute mit meinem geliebten, alten Lehrer genossen habe, so werde ich ganz sicher auch diesen Unterricht schnell ins Herz schließen können. Hoffentlich!
Es ist noch früh morgens, denn ich habe mitbekommen, wie Papa sich eben erst um die Teeopfer gekümmert hat.
Die Zähne sind geputzt, die Unterwäsche habe ich angezogen – und jetzt kommt der Prinzessinnenmoment(!): Ich hebe ganz einfach die Arme, recke sie nach oben und gucke das Kindermädchen erwartungsvoll an. Das ist ein toller Augenblick, und ich genieße es wirklich Prinzessin zu sein. Lester versteht meine herausfordernde Geste natürlich sofort und streift mir eilig von oben mein Marinekleid über, zieht am Rücken den Reißverschluss zu und zupft das Kleid dann auch noch solange zurecht, bis sie und ich das Gefühl haben, dass es sitzt. Herrlich! Jetzt noch die warme Strumpfhose – und … fertig! Es ist ganz einfach toll, sich einkleiden zu lassen. Bei Käthe übernehme ich das selber, und auch ihr ziehe ich heute eher Alltägliches an, binde ihr aber das rote Tuch mit den gelben und grünen Sternchen lässig um den Hals. Sie sieht frech und munter aus aber eben nicht zu wild oder zu ausgelassen.
Das Abenteuer kann beginnen!
In der Lobby sind alle aufmerksamer und etwas angestrengter als gewöhnlich. Die Offizierin des Tages – es ist Suzanne, eine ehrwürdige, alte Shambhala-Kriegerin – wird uns begleiten. Obi Van, der graue Schoko-Labrador – Freund und Beschützer rund um die Uhr – steht natürlich auch bereit. Ihm ist etwas unwohl, denn Suzanne ist sozusagen eine Vorgesetzte für ihn, und deshalb muss er sich etwas zurücknehmen und das ist für ihn eine echte Herausforderung. Eigentlich fühlt er sich nämlich als Herr aller Dinge und führt sich gerne auch so auf – etwas arrogant eben – aber das passt auch zu ihm und steht ihm eigentlich gut. Aber – armer Obi Van – jetzt musst du dich etwas zurücknehmen.
So –
Aufbruch…
Amala schaut uns hinterher und winkt sogar. Sie wird auch immer westlicher?
Ich glaube es wäre an dieser Stelle besonders gut und wichtig, meine persönlichen Beschützerinnen mit einem freundlichen Lied an ihre Pflichten zu erinnern, also singe ich innerlich und für mich:
Herbei, herbei ihr wilden Schwestern,
Versprechen gelten immer, immer:
heute, morgen so wie gestern!
Tashi Tsering Unsterblichkeit tragend,
und vornehm die Dinzang mit lieblicher Stimme,
Tinghi Shalzang mit flatterndem Banner,
Täkar Dozong – der Tugend und Taten –
Schweben und flattern und reiten von Sinnen,
Shambhala ruft euch!
Hört her, ihr Mädchen und bewegt eure Schwingen!
Erinnert euch unseres Freundschaftsschwurs!
Nach Weiten, Surren, Hexen und Blitzen
Stehen letztlich die Sinne uns nur!
Ob als zarte Elfen oder Weiber zähen:
Momente wie Senfkörner wollen wir sähen.
Und ihr, hey ho, Amazonen-Träger:
Drache, Esel, Hirsch und die Tiger,
Bringt rasch die Mädels, es gibt zu tun!
Hier und jetzt und keine Zeit, zu ruh´n!
Tanzen, lachen, wüten und singen,
Es soll das Lied von Shambhala erklingen!
„Tanzen, lachen, wüten und singen, es soll das Lied von Shambhala erklingen!“ Diesen Refrain liebe ich über alles und wiederhole ihn leise vor mich hin, während wir den Bach entlang wandern, der ganze bunte Fackelzug: Obi Van – ich halte die Leine – Suzanne, Käthe und ich natürlich.
Es ist wohl, weil Suzanne dabei ist, dass es sich feierlicher anfühlt als sonst. Die Leute drehen sich wie immer um. Aber das bewirkt hauptsächlich Obi Van mit seiner Wichtigtuerei, die er ganz einfach nicht ablegen kann, so sehr er es auch vielleicht versucht. Er schreitet wie ein edles Pferd, sehr aufrecht und vornehm, so dass er fast etwas Menschliches hat.
Schließlich sind wir da.
Wenn man bei Aga Hiob durch das Gartentor tritt und ein paar Schritte geht, steht man vor einem großen Naturstein, um den jeder irgendwie herum muss. Ignorieren kann man diesen Stein nicht, und ich habe den Verdacht, dass Aga Hiob ihn absichtlich hierhin stellen ließ. Meistens berühre ich ihn nur kurz im Vorbeigehen, aber heute streiche ich ganz aufmerksam darüber und lasse auch meiner Puppe Käthe, die ich auf dem Arm halte, viel Zeit, das gleiche zu tun. Aber das ist etwas zu viel und fatal, denn jetzt ist auch Obi Van aufmerksam geworden, der aber dann letztendlich auch ein Hund ist und er hebt sein Bein um zu Markieren. Nachdem wir alle diesem Stein soviel Aufmerksamkeit entgegen gebracht haben, denkt er wohl, er müsse das seine tun. „Nein Obi!“ rufe ich noch, aber es ist schon zu spät. Einerseits müssen wir alle furchtbar lachen, aber andererseits bleibt auch ein ungutes Gefühl, eine Art Schuldgefühl.
Das dauert aber nur Sekunden und ich eile weiter.
Wenn eine Offizierin dabei ist, überlasse ich bestimmte Aufgaben ihr. Das gehört sich so. So warte ich also, bis Suzanne auf den bronzenen Klingelknopf drückt, was ich eigentlich unheimlich gerne selber tue.
Es dauert einen Moment. Dann geht die Tür auf und vor uns steht, wie immer, der von Reventlow. Ein langer, mittelalter Mann mit wirrem, blondem Haar – Herrn Hiobs Sekretär, heute in schwarzem Anzug, wie immer scheinbar etwas unsicher und verlegen und ständig mit kleinen fahrigen Bewegungen zwischen Goldrandbrille und seiner Krawatte, unentschlossen hin und her. Weil der von Reventlow so hager ist, ist er eigentlich kein Anzugtyp, aber heute steht er ihm gut. Er sieht offiziell darin aus. Er trägt heute etwas dicker auf.
Ausnahmsweise stürme ich nicht einfach an ihm vorbei, so wie ich es sonst tue, sondern ich warte bis er, nachdem er erneut seine Brille zurechtgerückt hat, zur Seite tritt, und erst jetzt schreite ich vornehm und bedächtig hinein. Für einen Moment kommt mir alles irgendwie albern vor und ich fühle mich wie auf einer Bühne, aber das ist mir nicht neu.
Ich nehme mich zusammen und sage mir, dass alles normal ist.
Nichts Besonderes.
Ich lerne einen neuen Yoga. Na und?! Es wird nicht der letzte sein.
In der Lobby kommt jetzt ein Moment, bei dem ich mich sehr unwohl fühle, ich übergebe nämlich Suzanne meine Käthe, die eigentlich immer bei mir ist – meine ständige Begleiterin. Aber zu den Einweihungen darf ich Käthe nie mitnehmen, denn dazu sind diese Begegnungen zu persönlich, hat Papi mir erklärt. Dabei ist Käthe doch im Grunde mein zweites Ich! Aber es darf nicht sein. Sie schaut mich sehr traurig an, denn sonst ist sie oben bei Herrn Hiob immer mit dabei, und wir lachen und spielen immer gemeinsam auf seinem Podest herum und dabei geht es eigentlich immer sehr lustig zu. Na gut, heute muss sie halt unten bleiben. Es tut mir leid.
Obi Van geht wie üblich rüber zu seiner Decke und setzt sich, was bei ihm übrigens selten vorkommt. Aber er weiß wohl aus Erfahrung, dass das hier dauern kann. Eigentlich ist Obi Van auch in dieser Hinsicht fast wie ein Pferd, denn er verbringt die meiste Zeit seines Lebens stehend.
Suzanne steht neben dem von Reventlow – ein schönes Paar – und die beiden schauen mich erwartungsvoll an. Suzanne lächelt aufmunternd und nickt ermutigend. Ich muss jetzt also hoch.
Rechts an der Treppe befindet sich nach einigen Stufen eine Nische mit einer großen, flachen Schale und daneben einer Keramikkanne, in der sich frisches Wasser befindet. Hier wäscht man sich symbolisch die Hände. Einige kleine Handtücher zum Abtrocknen liegen auch bereit. Ich habe mich längst an diese kleine Zeremonie gewöhnt, die jeder Gast durchläuft, der hoch zu Herrn Hiob will. Nur der von Reventlow läuft meistens daran vorbei, aber ich bin sicher, dass auch er sich jedes Mal des Wassers bewusst wird, vielleicht verneigt er sich innerlich sogar jedes Mal leicht. Zuzutrauen ist ihm das ohne Weiteres, ebenso wie an dem Räuchergefäß, wo es um Feuer geht. Hier, ein paar Stufen weiter oben, opfere ich jetzt ein wenig Wacholderpulver aus einer chinesischen Porzelandose, indem ich es auf ein Stück glühende Kohle in einem eisernen Kessel streue. Die Kohle liegt auf Sand, so dass der Kessel selber nicht allzu heiß wird.
Weißer Rauch steigt auf. Es duftet.
Und oben neben dem Eingang hängt immer ein Blumengesteck.
Naja, das ist schon fast zu viel gesagt, denn eigentlich hängt da an einem Stück handgeflochtenem Hanfseil ein Stück Bambusrohr, nach unten geschlossen, und darin steckt für gewöhnlich ein Getreidehalm – oder auch zwei, manchmal sogar trocken – also, ohne dass Wasser in der Vase wäre. Aber heute – und das ist wirklich ungewöhnlich, und ich frage mich, wer dafür wohl verantwortlich ist – steckt darin eine wunderschöne, kleine, weiße Blume. Sie hat sechs oder sieben Blütenblätter und in der Mitte ist sie glühend gelb von süßem, und zugleich beißendem Blütenstaub.
So, jetzt trete ich aber endlich ein.
Aga Hiob sitzt auf seinem Podest, eigentlich so wie immer, aber das Zimmer erscheint mir aufgeräumter und er selber scheint frische Kleider zu tragen. Er hat eine Vorliebe für japanische Jacken und Hosen, wie er mir einmal erklärt hat. Sie seien ganz einfach bequem für einen alten Mann, meinte er.
„Guten Morgen Herr Hiob“, grüße ich, und „Guten Morgen meine kleine Prinzessin“, erwidert er. Sein Podest ist sehr hoch, so dass ich immer etwas Mühe habe, hinaufzuklettern. Herr Hiob beugt sich also weit vor, streckt mir seine Hand entgegen und zieht mich hoch.
Links von seinem Sitzkissen liegt heute ein blauer Gomden. Nein: Es erhebt sich ein blauer Gomden für mich an seiner Seite!! Was ist schon so besonders, neben jemandem zu sitzen, könnte man sich fragen, aber für mich ist es ohne Frage wirklich ganz außergewöhnlich – so anders – und es verschlägt mir sogar für einen Moment den Atem.
Bisher haben Käthe und ich ihm immer gegenübergesessen oder auch gelegen, mal auf dem Bauch mal auf dem Rücken, und seinen Geschichten gelauscht, die ich dann später ein oder auch mehrmals nacherzählen musste, denn darin bestehen sozusagen meine Hausaufgaben: Geschichten nacherzählen. Das ist seine Unterrichtsmethode: Geschichten erzählen, die in dem ein oder anderen europäischen Land spielen. Jedes europäische Land kommt mit vielen Geschichten hintereinander dran, und dann wechselt er. Und er kann so super gut erzählen! Und seine Stories haben tolle Details, die Details sind sogar das Beste!
Er bittet mich also, neben ihm auf dem Gomden Platz zu nehmen. Ein Gomden ist im Umfang ungefähr wie ein Bierkasten, aber nur halb so hoch, und besteht aus ganz festem Schaumstoff, der mit blauem, edlem Tuch bezogen ist. Ich setze mich also auf diesen Gomden neben Aga Hiob. Erst einmal rutsche ich etwas hin und her, bis es sich richtig anfühlt, die Beine überkreuzt. Nun schauen wir erst einmal schweigend, gemeinsam durch die beiden großen Dachfenster, die fast bis zum Boden reichen, auf den weiten, blauen Morgenhimmel und rechts auf eine Baumkrone. Wir schweigen und ich fühle mich sehr wohl so, auf meinem neuen Thron.
Ich bin gespannt wie es wohl weiter geht.
Vom Flur her – eine Tür gibt es nicht – riecht man den Wachholderrauch.
Nach einer Weile beginnt Herr Hiob dann mit den Worten: „Wir wollen uns erst einmal gemeinsam verbeugen.“ Wir legen also beide unsere Hände auf die Beckenknochen und verbeugen uns sehr langsam und sehr bewusst, nicht zu tief – nur bis zum Herzen – und halten dabei beide die Luft an.
Jetzt schaut Herr Hiob zu mir herüber: „Liebe Prinzessin, ich führe dich jetzt in die Übung zur Meditation ohne Inhalt ein. Das ist also sozusagen eine leere Meditation, und doch ist sie die wichtigste buddhistische Meditation, die es gibt und sie soll dich von heute an für immer begleiten.
Bitte mache es dir zur Gewohnheit täglich zu üben!
Beginne immer damit, die rechte Körperhaltung einzunehmen.
Das Formelle ist äußerst wichtig!“
Herr Hiob mustert von der Seite kritisch prüfend meinen Sitz und erklärt dazu: „Wir sitzen sehr aufrecht. Am besten ist es, du übertreibst am Anfang das Wache und Aufrechte etwas, und wenn du dann so kerzengerade dasitzt, entspannst du wieder etwas – ganz langsam – bis es sich angenehm und harmonisch anfühlt. Dieses Überspannen und dann wieder Entspannen solltest du auch später während der Meditation immer wieder einmal wiederholen.“
Herr Hiob beobachtet mich, während ich seinen Anweisungen folge. Er scheint zufrieden.
Es vergeht Zeit. Und er scheint es nicht eilig zu haben.
„Bitte schiebe die Handflächen auf deinen Oberschenkeln etwas weiter nach vorne, bis deine Oberarme parallel zum Körper locker herunterhängen.“
Pause.
„Lockere die Schultern bitte noch etwas mehr.“
Nach zwei oder drei Minuten dann weiter:
„Jetzt kommen wir zum zweiten Teil der Meditation. Wenn der Körper wach und aufrecht ist, dann wenden wir uns dem Geist zu. Bei der Erforschung des Geistes hilft uns der Atem.“
Hier macht er eine lange Pause.
„Wichtig ist dabei – vorweg –, dass du den Atem nicht forcierst, also keinen Einfluss darauf nimmst, ob der Atem schneller oder langsamer geht, ob tiefer oder flacher. Es ist sehr wichtig, dass du nicht auf den Atem einwirkst!
Wir lassen das Atmen so geschehen, wie es will! Ganz natürlich.
Aber – und jetzt kommt es – immer wenn das Ausatmen passiert, dann gehen wir selber mit unseren Gedanken, Sorgen, Träumen und Plänen, gemeinsam mit dem Atem, hinaus aus dem Körper und gehen in der Weite die uns umgibt einfach auf. Wir selber gehen also gemeinsam mit dem Atem hinaus und verschmelzen mit dem Raum der uns umgibt.“
Herr Hiob gibt mir etwas Zeit, dies ein paar Atemzüge lang auszuprobieren und beobachtet mich dabei kritisch. „Wir öffnen uns in den Raum, und das tun wir mit jedem Ausatmen immer wieder und wieder aufs Neue.
Ganz leicht.
Dazu bedarf es keiner Anstrengung!
Es ist so, als würden wir Seufzen und mit jedem Seufzer alle unsere Sorgen und alles was wir sind, loslassen.
Erleichterung.“
Ich folge ganz ruhig und aufmerksam den Anweisungen.
Es fällt mir leicht.
Das ist wunderbar.
Schon mit dem ersten Ausatmen ist es mir, als würde ich gewaltige Lasten einfach von mir lassen. Ich wusste gar nicht, dass ich so schwer bin.
Darüber bin ich kurz etwas verwundert.
Mit dem nächsten Ausatmen geht dann auch schon diese Verwunderung.
Ich gewinne den Eindruck ich hätte eine Art Erleichterungsmaschine eingeschaltet. Und mit jedem befreienden Ausatmen werde ich weiter und offener.
Gleichzeitig habe ich das Gefühl von zunehmender Helligkeit. Alles wird klar und ruhig.
„Frieden leuchtet“ denke ich, „Frieden leuchtet ja!“
Ich glaube, es ist viel Zeit vergangen, als Herr Hiob neben mir sagt: „Das reicht jetzt erst einmal, meine liebe Prinzessin. Wir können uns wieder gemeinsam verbeugen.“
Aber ich kann eben nicht!
Ich kann mich beim besten Willen nicht bewegen.
Ich sitze da in dieser offenen Weite, und es ist mir nicht möglich, mich zu bewegen, was mich übrigens überhaupt nicht beunruhigt. Es erscheint mir völlig egal.
„Ich bin ein schwereloser Stein“, denke ich.
Zeit vergeht.
Im Laufe der Zeit ändert sich die Stimmung im Zimmer. Für eine lange Weile schauen sogar richtige Sonnenstrahlen zu uns herein.
Weitere Zeiten vergehen.
Aga Hiob ist irgendwann aufgestanden. Er kommt mit einer federleichten, bunten Decke zurück, die er mir ganz behutsam und äußerst liebevoll über die Schultern legt. Ganz vorsichtig und aufmerksam. Und er zieht die Decke vorne am Hals einfühlsam aber fest zusammen. Er scheint mir etwas angespannt?
Es wird kühler im Zimmer, das spüre ich deutlich, aber die Decke hält mich warm.
Irgendwann schaut der von Reventlow herein, hinter ihm Suzanne. Die beiden bleiben für eine Weile, stehen einfach da und schauen mich an, sie sehen irgendwie heilig aus – sie erinnern mich an zwei Menschen aus der Vergangenheit, vielleicht ein Ehepaar, in einem ovalen goldenen Bilderrahmen – und dann gehen sie wieder.
Fast unwillig versuche ich noch einmal mich zu bewegen, aber es geht immer noch nicht. Der Frieden lässt das einfach nicht zu. Es fühlt sich so an, als wäre ich völlig vertrocknet gewesen und das Licht dieses Friedens wolle mich jetzt – erst einmal erwischt und am Schopf gepackt – einfach nicht mehr loslassen, solange, bis auch das allerletzte Teilchen und Momentchen von mir benetzt und von Glanz durchdrungen ist.
Nichts zu machen!
Bleierne Weite. Es geschieht etwas und das ist nichts.
Aga Hiob hat ein paar elektrische Lampen angemacht. Schönes, warmes Licht. Ich war noch nie bei Dämmerung in diesen Räumen. Es ist sehr heilig hier!
Für einen Moment denke ich: „Wie glücklich ich bin,“
Unten aus der Lobby schwingt, erfolglos verhaltene, flattrige Unruhe herauf.
Da ist ein Tier oben auf dem Dach? Es ist ein Eichhörnchen, dass sich verletzt hat. Es schleppt sich davon, und es tut mir so furchtbar leid!! Aber ich muss einsehen, dass ich nicht helfen kann.
Draußen ist es jetzt stockdunkel.
Ich möchte mich nie wieder bewegen sondern für immer einfach so verweilen.
Hm, in der Ferne fühle ich meine Knie! Sie schmerzen!
Ich versuche es erneut, und jetzt kann ich mich auch wieder bewegen.
Will ich das?!
Unwillig fühle ich meinen ganzen Körper wieder, mit Knochen und Muskeln und Organen. Ich fühle die Säfte die mich durchfließen – mein Herz.
Dieser Körper ist sehr schwer und sehr träge.
Ich werde verwirrt und unruhig. Was jetzt? Mir bleibt schließlich nichts anderes als mich zu verneigen, wie zu Beginn der Übung.
Die Pflicht ruft.
Ich neige also den Kopf und beuge dann den Hals und weiter bis zum Herzen.
Aga Hiob sitzt nicht neben mir sondern auf dem Rand des Podestes und schaut mich an. Er sagt: „Sehr gut Prinzessin! Ich bin froh, dass du wieder zu uns gefunden hast. Du hast unerwartet lange meditiert und uns überrascht und ein wenig Sorgen gemacht.“
Nach einer Pause dann:
„Wir wollen jetzt bitte gemeinsam den Verdienst Opfern.“
Herr Hiob beginnt und ich stimme freudig ein:
„Durch die Zuversicht der goldenen Sonne des großen Ostens,
Möge der Lotusgarten der Weisheit des Rigden blühen.
Möge die finstere Unwissenheit fühlender Wesen zerstreut werden.
Mögen sich alle Wesen tiefgründiger, strahlender Herrlichkeit erfreuen.“
Und dann steht Amala plötzlich in der Tür, meine Ama! Wo kommt die denn her? Ich kann mich nicht erinnern, sie je zuvor auch nur in der Nähe von Aga Hiobs Villa gesehen zu haben. Jetzt steht sie da. Sie hat eine Strumpfhose und Unterwäsche für mich in der Hand und mir wird bewusst, dass ich nass bin. Es ist mir gar nicht peinlich. Auch der Gomden ist etwas nass, das tut mir natürlich ein wenig leid, aber so etwas kann halt passieren, wenn man so lange still sitzt. Wortlos hilft Amala mir aus meiner Strumpf- und Unterhose heraus, und zieht mir die neuen warmen trockenen Sachen an. Dann drückt sie mich schweigend, wie nur eine Mutter ihr Kind lieb halten kann. So intensive habe ich ihre mütterliche Umarmung noch nie empfunden, und sie ist mir – überraschend – Sinnbild für vieles!
Ich bin nicht wirklich müde aber sehr zufrieden und satt.
Ich spüre die Gegenwart meiner Beschützerinnen sehr klar und deutlich und muss für einen Moment grinsen. Irgendwie war mir bisher nie klar, was für ungewöhnlich ausgeflippte Weiber das sind.
Ich bin ein großes Mädchen, das laufen kann, aber Amala fragt nicht lange, sondern nimmt mich auf den Arm und setzt mich auf ihre etwas vorgeschobene Hüfte. Ich klammere mich fest und so gehen wir langsam die Treppen hinunter in die Lobby.
Suzanne sieht müde aus und steht neben dem von Reventlow, dem gerade der Mund für ein paar Momente offen steht. Er scheint ganz besonders heilige Gefühle zu haben? Dann erinnert er sich, schließt den Mund und hält mir schnell, so, um es nicht zu vergessen, meine Käthe – meine geliebte Puppe – entgegen.
Aber Käthe ist ungewohnt kalt, fremd und leblos. Ich schaue sie lange an, kann sie aber nicht ergreifen. Ich kann sie dem von Reventlow nicht abnehmen. Es geht einfach nicht. Ich starre diese Puppe einfach nur an. Alle stehen schweigend um uns herum. Zeit vergeht.
Das tut weh. Ich fühle, wie mir dicke Tränen die Wangen herunterlaufen. Ich klammere mich enger an meine liebe Amala, die jetzt auch zu weinen begonnen hat.
Ich kann Käthe nicht annehmen?
Suzanne greift ein. Sie nimmt statt mir die Käthe, und sie hält sie für mich.
Und dann nimmt sie auch mich der Amala ab, und ich sitze nunmehr auf Suzannes Hüfte. Sie hält mich sehr aufmerksam und sehr liebevoll. Auch sie verliert den Kampf gegen ihre Tränen und schluchzt sogar laut auf. Ich lege meinen Kopf an ihre Schultern.
Wohl gemerkt: Ich bin hellwach!
Nur Obi Van scheint die Nerven zu behalten. Er steht ganz ruhig und feierlich und schaut ganz langsam im Kreis herum: Da ist der von Reventlow der mit einem schneeweißen Taschentuch – wahrscheinlich von seinem Urgroßvater – versucht, an seinen Augen herum zu wischen, ohne die Brille abzunehmen. Dabei gerät seine Goldbrille ins Schlingern, und er kann sie so gerade noch schnappen, bevor sie auf die Erde fällt… Das wiederum ist ihm furchtbar peinlich und er beginn hemmungslos zu weinen und versucht dabei die Schluchzer zu kontrollieren. Er schüttelt sich etwas.
Jetzt reicht mein bester Freund, der Koch André mir von hinten ein Rosinenbrötchen, was ich super dankbar annehme! Danke mein guter alter kugelrunder André!! Du bist immer da, wenn man dich braucht! Und dem kullern auch dicke Tränen?!
Und endlich ändet sich Amalas Stimmung abrupt und plötzlich muss sie lachen: „Kommt ihr Heulsusen, wir gehen nach Hause…
Und jetzt beginnen auch alle anderen Anwesenden mit ihren tränenden Augen ebenfalls zu lachen
und ich schaue sie nacheinander ganz ruhig an und ich amüsiere mich auch irgendwie …
köstlich…
und beiße dankbar in mein Rosinenbrötchen.
Das nennt man Emotionen.
Also dann los Leute!
Auf geht’s!
Aga Hiob hat sich eine Pause verdient…
wenn ich nicht irre…
ciao ciao
Euer Winni Quijote