Guten Morgen liebe Leute!
Ich habe erlebt, dass Leute zum allerersten Mal in ihrem Leben direkt bei einem zehntägigen, extrem herausfordernden Seminar – einem mehrtägigen Meditationsprogramm – meditiert haben. Die hatten es also vorher noch nie ernsthaft versucht, überhaupt einfach einmal still und wach da zu sitzen, sondern nur darüber nachgedacht oder gelesen. Und dann von Null auf Hundert machten sie es 14 Stunden lang, jeden Tag. Sitz- und Gehmeditation, Essen im Oryoki-Stil, aber alles ganz wach, aufmerksam und langsam. Ich habe in den Siebzigern an intensiven Meditationsseminaren teilgenommen, bei denen über die Hälfte der Teilnehmer keinerlei Erfahrung mitbrachten. Damit man jede Bewegung mitbekommt, verlangsamt man sich bei machen dieser Seminare so lange, bis man sich wie in Zeitlupe bewegt. Das hilft am Anfang enorm.
Wieso kann jemand, ohne geübt zu haben, einen ganzen Tag still sitzen? Oder anders herum, warum eigentlich nicht? Es ist tatsächlich gerade für Beginner so, dass sie mit anderen gemeinsam den ganzen Tag meditieren können, aber ganz alleine gelingt es ihnen nicht einmal für zehn Minuten. Mit anderen zusammen wird es dann nach zwei oder drei Tagen sogar wunderschön, mühelos und leicht. Warum nur ist es so viel leichter zu meditieren, wenn man nicht alleine ist? Und warum schaffen die Teilnehmer von so einem Meditationsprogramm, mit dem sie berührende Erinnerungen verbinden, es nachher zuhause alleine oft schon nach einer Woche nicht mehr, morgens eine halbe Stunde zu meditieren? Warum ist alleine so schwer, was in der Gruppe sogar glücklich macht?
In einer Schulklasse, die das Shambhala Zentrum in Marburg besuchte, erzählte ein dreizehnjähriges Mädchen, dass ihre Tante ihr schon vor Monaten erzählt hätte, wie toll es sei zu meditieren, und sie solle doch einfach einmal versuchen, sich für 10 Minuten still hin zu setzten, aufrecht und wach, und nichts weiter tun. Und sie erzählte weiter, dass sie sehr inspiriert gewesen sei, und sich fest vorgenommen habe, das wirklich schon am nächsten Tag zu probieren, und dann wieder für den nächsten Tag und dann wieder für den nächsten Tag, aber es sei nie dazu gekommen. Monate lang nicht! Nicht einmal die zehn Minuten. Dieses eigentlich ungewöhnlich disziplinierte Kind war schon deshalb von Meditation beeindruckt, weil sie es nicht schaffte. Sie nahm es mit Humor und brachte uns alle zum Lachen, aber sie war auch tief verwundert und es machte sie neugierig. Wir haben dann auf ihre Bitte hin, zwanzig Minuten lang zusammen mit der ganzen Klasse still gesessen. Es war wie immer ruhig und zugleich energetisch und beeindruckend.
Vielleicht nach der Lektüre von Hesses Siddhartha oder dem Tibetischen Totenbuch wuchs in mir als Jugendlicher der Wunsch, ein ganz großer Meditierer zu werden. Ich suchte damals eine Herausforderung und ahnte, dass ich in dieser Richtung – also Yoga, Meditation und Religionen – fündig werden könnte. Nun ist es aber viel leichter, täglich Yogaübungen mit dem Körper und mit dem Atem zu machen, und dabei spürbar elastischer zu werden und in seinen Körper hinein zu wachsen, als einfach nur still und aufrecht da zu sitzen. Das mit dem Yoga gelang mir gut, aber ich schaffte es kaum länger als eine halbe Stunde zu meditieren.
Das sollte anders werden! Ich war fest entschlossen. Ich war in meinem Zimmer in Boudhanath. Ich hatte tibetische Räucherstäbchen gekauft, die so lang waren, dass sie weit über zwei Stunden brennen würden. Ich wohnte ganz in der Nähe der berühmten Stupa und nicht weit von verschiedenen bedeutenden Meditationsmeistern. Das würde sicher helfen. Das Problem war, dass meine neugierigen tibetischen Nachbarn ständig durch die Fenster in mein Zimmer schauten, um zu sehen, was ich gerade machte. Ich klebte also die Fenster mit Reispapierdrucken von Buddhas, Bodhisattvas und Mandalas zu, bis kein Löchelchen mehr offen blieb. Dann: Ein kleiner Schrein mit einer Schale voll Sand, das Räucherstäbchen entschlossen hinein und ich zündete es an.
Feierlich tat ich ein Gelübde, mich nicht eher zu erheben, bis das Stäbchen völlig abgebrannt sei.
Daran erinnerte ich mich plötzlich, als ich im Restaurant von Amala saß und Tulli, das fünfjährige Töchterchen der alleinerziehenden Amala mir lachend und neckend wie immer, sie konnte mich nicht ernst nehmen, meine geliebte Nudelsuppe brachte. Wie war ich hierhergekommen?!! Was war geschehen? Ich war wirklich verwirrt. Ich konnte mich nicht erinnern, meine Meditationssitzung beendet zu haben. Wie war das möglich. Als ich dann später wieder in mein Zimmer kam, steckte das Räucherstäbchen verkehrt herum in der Schale mit Sand, so dass es nicht hatte weiter brennen können, und es war höchsten zu einem Fünftel – und auch diese Schätzung ist noch von Eitelkeit und Scham geprägt – abgebrannt.
Dafür, dass sich mein Geist damals in Bodhanath nicht zwingen lassen wollte, dafür gibt es gute Erklärungen. Unseren Geist kann man mit einem Wildpferd vergleichen, das durch die Prärie springt und jagt und noch nie einem Menschen nahe gekommen ist. Wenn man nun einfach auf den Rücken eines solchen Pferdes springen würde, dann würde das Pferd uns erschrocken, panisch und verrückt nach wenigen Sekunden abwerfen. Niemand könnte sich in einer solchen Situation auf dem Rücken eines Pferdes halten, einmal davon abgesehen, dass das Pferd ja ohne Sattel und Zaumzeug ist.
Was tun? Am besten beobachtet man ein Wildpferd erst einmal ganz aus der Ferne. Wenn es dann irgendwann einmal in ein Tal läuft, dann verschließt man schnell den Ausgang. Allmählich merkt die Stute nun, dass sie nicht mehr aus dem Tal herauskommt. Diese Phase könnte man vielleicht mit dem Meditieren in einer Gruppe vergleichen. Nach einer Weile wird das Wildpferd sich aber an die Gefangenschaft gewöhnen, sich einleben und zu grasen beginnen. Nun kommt die nächste Phase: man geht vorsichtig in das Tal und zeigt sich dem Pferd, aber aus sicherer Entfernung. Das könnte man vielleicht, bezogen auf die Meditation, damit vergleichen, eine erste Technik zum Anfreunden mit dem eigenen Geist einzusetzen, so wie zum Beispiel bewusst ein- und auszuatmen.
Jetzt ist Geduld gefragt. Das kann man nun eine Zeit lang üben, die Stute gewöhnt sich an den Menschen, so wie der Praktizierende Vertrauen zu der Wildheit aber auch der Weite des eigenen Geistes gewinnt.
Der nächste Schritt wäre nun, das Wildpferd anzusprechen, sich ihm zu nähern und es zu streicheln.
Wie das Beispiel weiter geht, möchte ich gerne der Phantasie der aufmerksamen Leserin und des aufmerksamen Lesers überlassen.
Ein Grund dafür, warum die Meditation mit anderen zusammen so leicht fällt, ist, dass die Geister sich vermischen. Man muss sich das so vorstellen, dass erst einmal jeder Mensch in der Meditationshalle sich seiner Weite zaghaft öffnet. Aber die ersten, kleinen Schritte in diese Richtung haben eine beruhigende Wirkung auf die Anderen in der Meditationshalle. Es findet eine unmerkliche Berührung und Verbindung statt. Und das geht hin und her. Es entsteht eine Wechselwirkung. Durch die Öffnung der Anderen fällt es auch mir leichter, meinen eigenen Geist zuzulassen und zu berühren, und dadurch wiederum fällt es dann auch den andern wieder leichter – und immer so weiter, hin und her… Die Teilnehmer sind sich der unterstützenden Wirkung der anderen zwar meist nicht bewusst, aber dennoch verbinden sie sich mit ihnen. Sie setzen sich selbst quasi zu den anderen in eine große warme Badewanne und tragen zur Erwärmung des Wassers mit ihrer Körperwärme, ihrem Schweiß und ihrer Pisse bei.
Also Leute: Rein in die Wanne!!! Schwitzen ist erlaubt, Pissen ist erlaubt, Hitze ist erlaubt, denn am Abend wird das Wasser gewechselt und am nächsten Morgen setzt man sich in ganz klares, frisches Flüssig und nach ein paar Tagen bleibt das dann auch bis in die Nacht so. Man braucht es dann nicht mehr ganz so gemütlich und warm zu haben und man kann die Frische immer mehr genießen. Es beginnt für den einen oder anderen ein wenig erbärmlich, aber jeder, ohne Ausnahme – ich habe es noch nie anders erlebt – sitzt nach zehn Tagen stolz und aufrecht, glücklich und zuversichtlich auf seinem Pferd und tätschelt ihm den Hals.
Euer Winni Quijote