2. – Frühling

Frühling

Guten Morgen liebe Leute!

Eine weitere Szene aus Shambhala:

Die Schlitten der fliehenden Eisfeen

vor kristallenen, glitzernden Umhängen

aus sirrenden Splittern, Glitzern und Flocken

gezogen von riesigen Schneebären

werden von flatternden Frühlingen

mit kunterbunten Schmetterlingsflügeln

wilde Bögen schlagend

und erregende Blüten verstreuend

ganz leicht, zwitschernd und spielerisch

vertrieben.

Huch und Ach und Jee

wo genau ist jetzt der ganze Schnee?

Diese Zeilen sind die Bündelung einer kreativen Welle, wie sie mich ab und zu überkommen. Fertig. Die finde ich jetzt gut und klar, und so gefallen sie mir. Es hilft sehr in Zeiten innerer Kämpfe, einfach ein paar Gefühle zu verdichten und dann wieder baumeln zu lassen. Zur Erholung und zur Erfrischung. Ich frage mich meistens gar nicht so sehr, was sie bedeuten.

Ich sollte mit den Gedanken aber eigentlich ganz woanders sein, nämlich im Zentrum meines Tibetischunterrichts bei Herrn Tsering. Wieder so einer, der mich formen soll!? Auch er ist einer von denen, die versuchen, an mir herum zu modellieren wie an einer Statue!

Aber ich bin kein Gegenstand! Ich bin ein lebendiges, fühlendes und eigensinniges Wesen!

Hauptsächlich sind es Papa, Amala und der blöde Herr Tsering, die ständig glauben, mich einfärben und bearbeiten zu müssen, und sie rauben mir die Luft damit!

Herr Tsering – mein Tibetischlehrer – bemerkt jetzt meine Abwesenheit und weiß nicht, wie er reagieren soll. Es hat eine Weile gedauert, bis er überhaupt wahrgenommen hat, dass ich mit ganz anderem als seinen Ausführungen beschäftigt bin.

Und dabei fand ich Tibetisch vordem lebendig und wunderschön, meine Puppe Käthe übrigens auch. Sie kann stundenlang vor einem tibetischen Text sitzen und den Anblick einfach genießen.

Jetzt gibt sie mir ein sanftes, tröstendes Küsschen und schmiegt sich mitfühlend enger an, sagt aber weiter nichts.

Das tut wohl.

Ich schüttele mich ein wenig und richte mich noch etwas mehr auf, vor meinem Schreibtisch, der viel zu groß für mich ist. Mein Stuhl ist so hoch, dass ich mich nicht einfach wie ein Erwachsener darauf setzten kann, sondern dass ich ihn regelrecht besteigen muss, wenn mir niemand hilft.

Mein Unterricht bei Herrn Tsering begann vor einigen Wochen wirklich frisch, und die neue Herausforderung gefiel mir sehr und war mir willkommen.

Übrigens ist Herr Tsering Mitarbeiter an der hiesigen Universität und ein Bekannter von Amala. Er kommt jetzt also fast täglich und wir üben immer gemeinsam zwei volle endlose Stunden lang!

Zuerst hatten wir traditioneller Weise Shés geübt. Das ist der Anfang von Allem. Shés sind einfach Striche, die sich von oben nach unten gleichmäßig verjüngen. Schreibt man mit einem Filzstift, drückt man oben feste auf und verringert dann bei der Abwärtsbewegung langsam den Druck, oder mit einem Stift mit Bandzugspitze, dreht man den Stiel während der Abwärtsbewegung gleichmäßig gegen den Uhrzeigersinn mit demselben Ergebnis. Wenn man tibetische Druckschrift schreiben will, dann muss man diese Bewegung solange üben, bis es von ganz alleine passiert, dass die Striche sich nach unten gleichmäßig verjüngen.

Papa sagt, dass die Tibeter Wert darauf legen, so schön zu schreiben, dass es aussieht wie gedruckt, und auf meinen Lehrer Tsering trifft das zu. Was der schreibt, sieht aus, als käme es aus einer Maschine.

Trotzdem behält diese tibetische Druckschrift immer eine zauberhafte, bäuerliche Eleganz. Himmlisches und Erdiges gehen hier eine magische, harmonische Verbindung ein. Es ist geradezu beseligend, Silben und Wörtern so Gestalt zu geben. Eigentlich herrlich!

Ich begann also mit fingerlangen Strichen, die erst einmal noch wild tanzten, sich berührten und miteinander rangen. So malte ich mehrere Blätter voll, langsam und einfühlend ein Shé neben dem anderen. Und meine Striche wurden jeden Tag besser, so als würde ich über Nacht im Schlaf dazulernen.

– Sonderbar…? –

Zwischendurch durfte ich erste Silben malen.

Ich wurde sicherer und schneller und meine Shés wurden kleiner, bis sie schließlich die Größe von Herrn Tserings Zeichen hatten, also schon genau richtig, um einen Text oder ein Gedicht aufzuschreiben. Das war ein überaus befriedigendes Ergebnis, dass ganz tolle Perspektiven eröffnete.

So ein einfaches Shé bezeichnet im Tibetischen ein Satzende, so wie im Englischen der Punkt.

„Punkt oder Strich, das ist also hier die Frage.“

Jetzt muss ich lachen. Das würde ich gerne aufschreiben: „A“ für Punkt und „Shé“ für Strich.

Hier in Shambhala benutzt man eigentlich die Schrift mit dem Punkt. Niemand hier kann tibetisch schreiben. Ich aber soll die normale Schrift erst später erlernen, wenn ich endlich in die richtige Schule gehe, was nicht mehr lange dauern sollte, nämlich dann, wenn ich sechs Jahre alt bin.

Ich schuf also viele Reihen von Strichen und interessanterweise hatte jede Reihe etwas Eigenes – Eigencharakter -, egal wie gleichmäßig ich auch arbeitete, nie waren sie wirklich so wie von einer Maschine gedruckt. Es steckte immer noch etwas von mir in jeder dieser Reihen von Strichen, und ich entdeckte darin Seiten von mir, die mir bislang verborgen waren. Und es war herrlich, in diesen ungewöhnlichen Spiegel zu schauen. Meine Begeisterung für diese Seitenklänge, und diese besondere Art mit Spontanität zu experimentieren mochte Herr Tsering gar nicht: „Vergiß dein Ich.“ sagte er.

Aber diese Bemerkungen störten mich wenig. Es war spannend und ich erglühte erst einmal für diesen Tibetischunterricht. Er veränderte mein Leben und gab ihm eine unerwartete, faszinierende Wendung.

Herrn Tsering als Mensch nahm ich erst einmal kaum wahr. Er ist sehr unscheinbar und normal. Er trägt gerne graue und beige Anzüge ohne jeden Charme und seine Krawatten sind blass und scheinen sinnlos an ihm herunter zu hängen. Das Kindermädchen Isabell nannte diese Krawatten: „Regenwürmer!“ Diese Entdeckung fanden wir dann so witzig und das Wort „Regenwurm“ brachte es in dem Moment derart auf den Punkt, dass daraus eine wilde Tanz- und Kullerparty entstand. Wir lachten und tanzten, schlangen uns bunte Bänder um den Hals, warfen die Köpfe in den Nacken, taten wichtig und rollten uns jauchzend in die Kissen – also die Isabell, Käthe und ich.

Vielleicht tragen alle Lehrer schlappe und kraftlose Krawatten?

Inzwischen aber gibt dieser Herr Tsering zunehmend mehr Hausaufgaben auf und aus dem Spaß wird eine Qual.

Zuerst war es nur eine Seite Silben, die ich schreiben und dann laut mit ihm buchstabieren musste, aber als es dann mit dem Lesen besser ging, kamen die Vier- und Sechszeiler. Das heißt: Immer wieder lesen, abschreiben und auswendig lernen. Puh! Ich bin doch noch ein kleines Mädchen! Und kleine Mädchen brauchen Zeit zum Spielen, zum Freundschaftenschließen, zum Toben und zu vielem mehr, von dem der blöde Tsering sowieso keine Ahnung hat!

Nun gibt es aber einen Trick, Herrn Tsering wenigstens vorübergehend etwas abzulenken und mir so eine Pause zu verschaffen: Ich muss ihn nach seinen SuWaaDi-Produkten fragen. Ich sage dann zum Beispiel einfach nur scheinheilig: „Wie geht es denn eigentlich mit dem Verkauf?“ Und das genügt schon. Herr Tsering jammert dann sinngemäß sofort los: „Schleppend!! Schleppend! Ich verstehe die Leute hier in Shambhala nicht. Es ist doch sooo einfach! Man kauft von mir 20 Kilo SuWaaDi Waschpulver mit dem einzigartigen Farbverstärker und der Hydro-Waschkraft auch bei niedrigen Temperaturen. Wenn man nun einfach nur 18 Kilo davon an Freunde zu dem unschlagbaren Niedrigpreis weiter verkauft, bleiben für einen selber zwei Kilo übrig! Kostenlos! Es ist so einfach und doch findet sich kaum jemand, der mitmachen will.“ Dann seufzt er, schüttelt den Kopf, lässt den dann etwas hängen und versinkt in einem tiefen Tal des Selbstmitleids. Und das geht jetzt schon seit Wochen so. Ich habe ihm einmal geraten, eine Krawatte im Grün-Orange-Rot, den Farben der Marke SuWaaDi, zu tragen. Aber das fand er nach kurzem Nachdenken nicht gut. Er meinte: „Das könnte peinlich werden.“ Was auch immer das heißen soll…

Herr Tsering weiß nichts davon, dass ich Amala vorgeschlagen hatte, ihm zwanzig Kilo für den Hof abzunehmen. Amala reagierte damals geradezu hysterisch – „Auf keinen Fall!“ -, fing sich dann zwar schnell wieder, hatte nun aber das Problem, mir ihre heftige Ablehnung erklären zu müssen. Jeder weiß, dass ich immer – ja, immer – solange nachfrage, bis ich wirklich verstehen und nachvollziehen kann, was gemeint ist beziehungsweise worum es geht. Damit gehe ich vielen Leuten oft ganz schön auf die Nerven. Aber so bin ich eben, ich will dann verstehen, was los ist, was genau passiert und was dahinter steckt, so weit und tief wie nur möglich.

Amala fiel als nächstes das Wort „armselig“ ein. Nachdem sie es aber ausgesprochen hatte, schaute sie diesem Ausdruck selber ungläubig hinterher und hätte es am liebsten zurückgenommen.

Nun – wie gesagt – so etwas kann ich nicht einfach stehen lassen: “Das musst du mir erklären.“

Gerade wenn ein Wort so spontan und gedankenlos fällt, dann ist es wichtig!

Amala druckste herum und versuchte zu erklären: „Viele Menschen ziehen es vor, in Armut zu leben und damit zufrieden – also selig – zu sein. Dahinter steckt dann letztendlich Ängstlichkeit.“

– Puh, ging es dem Tsering jetzt ans Leder? –

„Und natürlich steht es den meisten Menschen frei, sich für so ein ängstliches, gemütliches Leben zu entscheiden.“

Und dann wechselte sie von versöhnlich zu energisch und fuhr fort: „Aber eine Prinzessin hat diese Wahl nicht!

Du wurdest geboren, eine tapfere Drachenprinzessin zu sein.

Du bist das Vorbild für ein tapferes und herausforderndes Leben! Wach, mutig, witzig und schlau. Deine Aufgabe ist uneingeschränkte Zuversicht.“ Und jetzt schlug ihr Ton noch weiter um, hin zur Predigt. – Und ich merke immer sofort, wenn jemand zu prdigen beginnt und ich hasse das! –

„Du solltest eben nicht versuchen, dir kleine Nischen oder Hintertüren für Rückzüge und Fluchten offen zu halten! Du hast Verantwortung für die anderen Wesen und die ganze Welt! Du darfst dich nicht verstecken!“

Ich frage mich zwar oft, warum gerade ich für immer ein Vorbild sein soll, habe mich aber bisher noch nicht getraut, diese Zweifel auszusprechen. Für eine solche Diskusion bedarf es des rechten Augenblicks.

Wenn Amala beginnt zu predigen, dann glaube ich ihr kein Wort mehr, bin aber quasi überwältigt – sozusagen durch ihre Macht besiegt. Erdrückt. – Ich gebe mich geschlagen. An dieser Stelle kann ich das Thema nur noch vertagen.

Es ist nicht fair zu predigen, denn eine Predigerin fühlt sich uneingeschränkt im Recht, und ist dadurch verschlossen und für Einwände und Rückmeldungen nicht mehr erreichbar.

Um weiterem Gepredige vorzubeugen, reagiere ich also mit einem höflichen „Hmm“ und nach einer kurzen Weile mit einem weiteren „Hmm“. Mehr bleibt auch mir dann trotz all´ meiner Neugier nicht übrig. Mit Predigen kann man meinen Fragefluss noch ausbremsen. Ein autoritärer und billiger Trick, aber wirksam, und noch weiß ich nicht damit umzugehen und diese Momente zu meinen Gunsten zu nutzen. Aber der Tag wird kommen!

Heute perlen die Minuten mit Herrn Tsering wieder besonders langsam dahin. Der Unterricht geht einfach nicht vorbei. Mein Kopf ist bleischwer. Und Herr Tsering ist streng und böse mit mir, weil ich mich angeblich nicht genug konzentriere. Und er hat natürlich Recht: ich bin ja wirklich nicht bei der Sache. Diese Frühlingszeilen haben mich ganz schön lange beschäftigt und abgelenkt.

Er jammert: „Das kann doch nicht so schwer sein!“ Käthe tätschelt meine Hand.

Und draußen beginnt das Frühjahr!

Ich richte mich also auf, setze mich wieder ganz gerade hin, und stelle mir einfach vor, der Unterricht hätte gerade erst begonnen. Also – keine Fantasien und Tagträume mehr!

Das hilft normalerweise für eine Weile. Man kann jeden Moment immer wieder als einen neuen Anfang betrachten. Dabei richte ich mich dann innerlich und auch immer körperlich auf, und Käthe bekommt das natürlich mit, und dann ist auch sie wieder da.

Ich würde aber jetzt trotzdem gerne woanders sein und versuche deshalb etwas Neues:

„Herr Tsering, ich muss mal.“

„Kann das denn nicht warten?“, fragt Herr Tsering nach.

„Nein“ ist meine ganz klare, sachliche Antwort und mein Ausdruck erlaubt keinen Widerspruch.

Und dabei nutze ich meine Schauspielkraft und gebe meinem Gesicht und der Körperhaltung das Aussehen eines kleinen Mädchens, das dringend aufs Klo muss. Das ist vielschichtig und gar nicht so einfach zu spielen. Herr Tsering hat selber keine Kinder und weiß nichts über die Klo-Gewohnheiten von kleinen Mädchen und – Hurra – es klappt, er lässt mich gehen!!

Ich springe hinunter von meinem Stuhl und verlasse langsam das Zimmer. Käthe lasse ich ausnahmsweise zurück, denn Herrn Tsering würden Zweifel kommen, ob ich wirklich ins Bad wollte. Ich gehe also langsam und würdevoll zur Tür hinaus, die übrigens offen steht. Hinter der Tür führe ich einen kurzen, lautlosen, irren Freudentanz auf. Freiheit!

Ich renne nicht ins Bad sondern an Obi Van vorbei in die Küche. Obi Van, der graue Schoko-Labrador, folgt mir neugierig und misstrauisch. Er kennt mich besser als ich mich selber und kann ab und zu äußerst humorlos sein.

In der Küche treffe ich André, den Koch, der wie immer sofort ein Rosinenbrötchen für mich zur Hand hat. Niemand liebt mich so wie er, und wie immer fragt er: „Na, wie geht es denn meiner kleinen Prinzessin? Lassen sie dich wieder nicht spielen?“ Er ist ein unendlich netter und gemütlicher Mann mit einem dicken Bauch, dicken Backen und einer knallroten Nase, so wie es sich für einen Koch gehört. Jetzt geht er sogar in die Hocke, wobei es ihm sichtlich schwer fällt, das Gleichgewicht zu halten. Aber er will mir näher sein und fragt: „Hast du schon gesehen, wie das Frühjahr die Natur verändert? Es gibt schon erste wunderschöne Blumen da draußen und jetzt geht es auch bald los mit dem frischen Obst, und wir brauchen nicht mehr diese immer gleichen, immer gleichgroßen Einheits-Äpfel zu essen, die nach amerikanischem Garnichts schmecken. Von „Garnichts“ verstehen die was.

Weißt du – mich macht das Frühjahr glücklich, denn dann sind alle Menschen wie durch Zauberei herzlicher und geduldiger, obwohl sie gar nicht verstehen wieso. Komm, ich zeige dir das Gemüse für heute Abend. Ich soll für zwölf Personen kochen. Irgendwie: Wichtig-wichtig! Und ich hatte Glück beim Suchen nach passenden Zutaten. Ich bin so glücklich! Der Rest ist jetzt fast ein Kinderspiel. Das wird ein wunderbares Dinner!!“

Er richtet sich wieder auf und beginnt im Bereich mit den Wasserbecken das Gemüse zu waschen, und er stellt mir einen Hocker hin, auf dem ich stehen soll, und ich hätte ihm helfen können.

Wie gerne hätte ich das getan, aber da tritt auch schon die Offizierin des Tages zusammen mit Obi Van, der kurz verschwunden war – Verräter!! – zur Tür herein.

„Mist!“ und „aus der Traum!“.

Nun ist die Offizierin aber glücklicherweise eine meiner Lieblingsoffiziere und eine alte Freundin. Sie ist schon weißhaarig und eine wirklich alte Frau, ziemlich rundlich – gut zum Anlehnen – und sehr ruhig und freundlich: „Also hier versteckt sich die kleine Ausreißerin!“ Ich laufe schnell zu ihr rüber um sie zu besänftigen und strecke ihr meine Hände entgegen, damit sie mich hochnehmen kann. Das wirkt immer entwaffnend. Sie lacht, packt mich und setzt mich einfach auf ihre linke, runde, gemütliche Hüfte, die sie etwas vorschiebt. Sie ist so warm und mütterlich!

Dagegen ist der Tsering ein kalter Frosch!

„Es tut mir leid mein Schatz.“ Wir sind so vertraut miteinander, dass sie Schatz zu mir sagen darf. „Es tut mir leid mein Schatz, aber ich muss dich leider zurückbringen. Herr Tsering vermisst dich sehnsüchtig und fragt sich, wo du bleibst.“

Da ist nichts zu machen: „Bitte, bitte kommst du mit und bleibst für ein paar Minuten dabei, wenn ich wieder in den Unterricht gehe? Bitte!“

Ciao ciao

Euer Winni Quijote