Guten Morgen liebe Leute!
Eine weitere Szene aus Shambhala:
„Ich könnte sogar problemlos in einem Fass wohnen! Ganz ohne Kuscheldecken und Lampions! Leicht sogar! Und sogar gerne!“ Käthe schaut mich zweifelnd an.
Wir sind auf dem Weg zurück zum Hofe. Obi Van, der graue Schoko-Labrador, der so sehr an ein edles Pferd erinnert, meine Puppe und ständige Begleiterin Käthe und ich.
Bei Herrn Hiob – meinem Lehrer für europäische Geschichte und Kultur –, bei dem ich zweimal wöchentlich Unterricht nehme, war es wieder einmal super spannend. Das hat mich berührt, aufgewühlt und auch etwas beunruhigt. Es ging um griechische Lebensweise und insbesondere griechische Denker, in der Zeit nur wenige Generationen nach Buddhas Parinirvana. Scheinbar unterschied sich das Leben auf den Straßen, die Menschen, ihre Gewänder, ihre Speisen und Getränke in Griechenland kaum von denen in Indien. Aber diese Menschen dachten anders. Sie bezogen sich auf Logos. Eigentlich geht es dabei erst einmal nur um Vereinfachen und Sortieren. Aber Herr Hiob hat gewarnt, dass es ein sehr selbstgefälliges Werkzeug sei. Und da gibt es etwas an diesem Logos, was ich nicht verstehe. Ich schwimme in diesem Begriffe herum; versuche zu tauchen und allmählich mehr davon zu begreifen. So wie ich es mit vielen anderen „Worten“ auch mache.
Ach herje, Aga Hiob war beim Erzählen wieder besonders begeistert und ausgelassen. Er kann wahnsinnig lebendig erzählen und währenddessen ist er nur für mich da. Ich erlebe es sehr selten, dass die Menschen um mich herum wirklich für mich da sind, und nicht gleichzeitig etlichen anderen Angelegenheiten nachgehen und nachsinnen. Sogar bei Papa habe ich oft das Gefühl, dass er mit seinen Gedanken woanders ist. Herr Hiob ist, wenn ich bei ihm bin, ausschließlich für mich da. Das liegt auch etwas an der Eigenart seiner Villa, die ein ganz besonderes Mandala ist. Alles ist ganz anders als am Hofe.
Obi Van ist unser Beschützer, der uns quasi an der Leine führt, entgegen dem Eindruck, dass ich ihn führe; er ist gewissermaßen unser Bodyguard. Er ist größer als ich, stolz und … vornehm. Seine Gestalt zusammen mit dem wachen, umsichtigen Blick – das alles führt dazu, dass man ihn nicht übersehen kann. Ohne ihn würden Käthe und ich wahrscheinlich nicht weiter auffallen. Aber wir drei zusammen bieten schon einen sehr malerischen Anblick. Und immer wieder hält jemand inne und schaut uns nach.
Wir haben uns inzwischen daran gewöhnt, und wenn ich bemerke, dass jemand schaut, schauspielere ich ein bisschen. Ich hebe zum Beispiel unmerklich die Schultern, und spitze die Lippen ein wenig oder streiche die Haare zurück. Also ich schärfe einfach die Konturen etwas, und das macht mir riesigen Spaß, und wenn Käthe es bemerkt, dann kichert sie und fasst mich fester.
Es muss für Obi Van unter all diesen Umständen besonders schwer sein zu entscheiden, ob von jemandem eine Gefahr für uns ausgeht. Aber ich halte ihn für einen Profi, der weiß, was er tut. Auf längeren Strecken begleiten uns auch immer Erwachsene, aber die zehn Minuten vom Hofe zur Villa und zurück, die dürfen wir drei ganz auf uns gestellt alleine bewältigen.
Wenn wir von Herrn Hiob kommen, bildet sich immer sehr bald ein bestimmtes Thema aus dem Unterricht heraus, das uns fesselt. Es sind meist nur ein oder zwei Bilder, die uns dann intensiv beschäftigen und die im Wechselspiel der Gedanken und Gefühle für die ganze Unterrichtseinheit stehen und auf diese Art nachwirken. Eigentlich ist das verwunderlich, denn Herr Hiob erzählt uns ja immer viele verschiedene, kleinere, überschaubare Geschichten aus einem Land und einer Zeit, die ich dann beim nächsten Besuch nacherzählen muss. Das sind meine Hausaufgaben und das ist seine Unterrichtsmethode und ich bin – ehrlich gesagt – verrückt danach. Es ist so toll!
Auch von diesem langen Nachmittag über Griechenland hat sich ein Bild tief eingeprägt: Da hieß nämlich einer Diogenes, und in der Erzählung entschloss er sich, in einem großen Fass – in solchen Fässern wurden damals eigentlich Waren transportiert; die waren riesig – zu wohnen. Sie waren viel, viel größer als die Bier- oder Sauerkrautfässer bei unseren Händlern. Sie waren so hoch, dass ich darin ohne weiteres hätte stehen können – und Obi Van noch daneben.
Dieser Diogenes scheint diese Einfachheit nicht aus Angst gewählt zu haben, also nicht nach dem Motto: Wer nichts hat, kann auch nichts verlieren. Im Gegenteil: Er war sogar ein sehr tapferer und energischer Vordenker. Er hielt sogar Audienzen vor seinem Fass ab, und Schüler versammelten sich dort.
– Einfach und doch ein König!? –
Käthe wählt beim Diskutieren immer den denkbar einfachsten, naiven Standpunkt. Das kann ich mir nicht leisten, denn ich bin ja schließlich Prinzessin.
Sie begeistert sich also gerade für ein solches Leben in dem man nichts verlieren kann, während ich ihr zu erklären versuche, dass so ein problemloses Leben egoistisch und verantwortungslos ist. Und das ist für mich als Prinzessin nicht nebensächlich, denn genau darum geht es ja in meinem Leben. Nicht ganz ohne Wenn und Aber, aber im Wesentlichen geht es schon genau darum. Ich versuche natürlich für Käthes Position offen zu bleiben und sie zu verstehen. Das tue ich wirklich, aber ich vertrete meine Standpunkte meinerseits schon auch sehr nachdrücklich.
Das Ganze macht Obi Van etwas unruhig. Er tippelt ein bisschen. Er mag es nicht, wenn ich mit Käthe laut diskutiere, denn immerhin ist Käthe eine Puppe und so erscheint es den Leuten, die vorbei gehen dann so, als würde ich mit mir selber sprechen, und das ist Obi Van wahrscheinlich peinlich…?
Im Gespräch vertieft halten wir an einer roten Ampel am Zebrastreifen. Wir müssen warten.
Und da spricht uns ein großer Junge an.
Er ist viel älter als ich und sogar noch bedeutend größer als Obi Van. Aber er sieht freundlich aus mit seinen Sommersprossen um die Nase herum, frech und interessant. Und es gibt bunte und bestechende Tiefen und Eindrücke um ihn herum.
„Bist du die Prinzessin, von der die Leute reden?“, spricht er mich an.
„Allerdings“, erwidere ich, blick zu ihm auf und frage meinerseits: „Und wer bist du?“
Er zögert einen Moment, traut sich dann aber und sagt laut und deutlich und ziemlich selbstgefällig: „Das ist Quatsch. Prinzessinnen gibt es nur in Märchen.“
Und jetzt passiert es wieder: ich erwidere, ohne zu zögern: „Jeder Mensch lebt sowieso in seinem ganz persönlichen Märchen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Und du auch!“
Es kommt häufiger vor, dass solche Behauptungen aus mir heraus purzeln. Ich weiß wirklich nicht, wo sie herkommen. Es überkommt mich einfach. Aber wenn ich dann hinterfrage, was ich gerade gesagt habe, stelle ich immer wieder fest, dass es Sinn macht, was da so spontan aus mir herausschießt. Das bin schon ich, die da redet und doch bin ich andererseits immer selber überrascht.
Der Junge muss schlucken. Ich glaube, dass er mich nicht so ganz verstanden hat. Er scheint verwirrt und fühlt sich scheinbar überfordert: „Ich finde dich doof !“
Jetzt macht sich Obi Van bemerkbar. Er richtet sich spürbar auf und dreht seinen Kopf langsam herüber zu dem jungen Burschen. Das Problem ist aber, dass Obi Van zwar groß ist und oft auch wie ein edles Pferd erscheint, aber nie wirklich furchteinflößend wirkt. Er ist nun einmal einfach nicht diese Sorte von Hunden, vor denen man Angst hat. Er könnte eher vornehm eine schwarze Fliege um den Hals tragen, ohne dass es jemanden sonderlich verwundern würde.
Ich überhöre einfach, was der Junge gesagt hat und frage: „Sagst du mir, wie du heißt?“. Dabei zittern mir aber doch schon heimlich etwas die Knie.
Jetzt schlägt die Ampel um. Wir können gehen, und Obi Van zieht fast unmerklich aber eindringlich.
Wir gehen also los. Der Junge bleibt an unserer Seite.
Nun ist es ja so, dass gemeinsame Bewegung, so wie zum Beispiel Gehen, entspannt und einander näher bringt – so wie auch Tanzen oder Radfahren – und Spannungen lockert.
„ Ich bin Pete. Aber erkläre mir doch einmal, wozu Prinzessinen, Könige und Königinnen überhaupt gut sind. Man braucht sie doch gar nicht, aber trotzdem machen sie sich extra wichtig.“
Ich blicke mitleidig zu ihm hoch, und das ist eine große Kunst, wenn das Gegenüber zwei Köpfe größer ist als man selbst. Gütig auf jemanden hinabschauen ist einfach; das geht fast von selbst, aber für mich gibt es hier leider gerade keine Möglichkeit, in eine überlegene Position zu gelangen, zum Beispiel kein Mäuerchen auf dem ich hätte balancieren können. Nichts dergleichen. Also ist mein schauspielerisches Talent gefragt. Ich muss mitleidig nach oben schauen! Nun, der Trick bei der Schauspielerei ist, dass man so innig und aufrichtig wie möglich eins wird mit dem, was man spielen will. Und so mache ich es dann auch.
Ich schaue ihn mitleidig an und frage: „Wer sollte denn die Mächte des Materialismus beherrschen und leiten? Dazu genau bedarf es Geistlicher und Könige.“
Pete ereifert sich: „Wer behauptet denn so etwas?“
Und dann kommt es wieder ganz eigenmächtig aus mir heraus: „Es kommt nicht darauf an, wer etwas behauptet, sondern es geht darum ob man es selber versteht und nachvollziehen kann! Du musst für dich selbst wissen, ob etwas stimmt oder nicht, das kann dir niemand abnehmen.“ Ich mache ein paar lustige Tanzschritte, so wie beim Seilspringen – das erleichtert – und dann fahre ich fort: „Als Prinzessin lernt man schon von sehr früh an über die Eigenarten und Formen der Mächte des Materialismus, obwohl man ja als Kind noch gar nicht so stark von ihnen berührt wird.“
Pete ist schlau: „Was sind diese Mächte?“
Ich: „Sie basieren auf Angst und Sicherheit. Aber wie gesagt: das musst du selber herausfinden. Du bist schon viel älter als ich, und auf dich nehmen diese Mächte jetzt sicher schon gewaltigen Einfluss. Du kannst sie also besser spüren als ich. Schau einfach genau hin! Wenn du Unruhe und unberechenbare Wirbel entdeckst oder wenn bedeutungsloser Schnickschnack dich fesselt, dann bist du nahe dran.“
„Nein!“, sagt Pete und: „Ich kenne keine Angst!! Und du bist wirklich doof.“ Aber er klingt jetzt irgendwie schon viel freundlicher. Nein, es fühlt sich sogar so an, als hätten wir soeben Freundschaft geschlossen. Er klingt selbst bei den harschen Worten jetzt wärmer und herzlicher. Irgendwann während des Gesprächst haben wir uns verbunden. Das macht mich froh.
„Jeder hat Angst!“, sage ich aber trotzdem immer noch leicht herablassend, muss dabei aber auch jetzt leider wieder ziemlich steil nach oben schauen. „Aber man kann sie beherrschen. Angst nährt seit unendlich langer Zeit die Mächte des Materialismus, die immer hemmungsloser von den hektischen Menschen um uns herum Besitz ergreifen, und immer raffinierter werden.“
Pete öffnet kurz den Mund um etwas zu sagen, aber dann schließt er ihn wieder und denkt nach.
Es dauert. Pete denkt nachdrücklich noch weiter nach. Seine sommersprossige Stirn liegt in Falten und seine Stupsnase kräuselt sich auch irgendwie. Ich finde ihn niedlich. Er ist so feurig mit seinen wilde braunen Locken, die vielleicht sogar einen Stich Rot haben. Und ich wäre gerne nett zu ihm, aber ich kann ja schließlich keinen Quatsch reden, nur um nett zu sein.
Schließlich fragt er: „Und was kann man gegen diese Mächte tun?“
„Lachen und weinen! Das kann man tun! Gegen jeden, der lacht oder weint, ist der Materialismus machtlos. Aber leider sind Lachen und Weinen sehr kurzlebig! Und man kann ja nicht nur deshalb immer weiter lachen, um sicher zu gehen, dass man es nicht vergißt. Also braucht es immer wieder neue Schnitte. Du kannst zum Beispiel künstlich lachen: Ha! und dann noch einmal: Ha!! Das durchschneidet Materialismus auch dann wenn es nicht spontan sondern künstlich ist: Ha!
Leute die dem Materialismus völlig verfallen sind, die können gar nicht mehr lachen und weinen.
Und ein weiteres Problem ist, dass man das Lachen und Weinen nur schwer zurückerobern kann, wenn man sie erst einmal verloren hat. Aber das künstliche Ha! wirkt oft Wunder.“
Ich bleibe stehen und schaue ihn scharf an: „So ist das!“.
Wir sind vor dem Shambhala Hofe angekommen und ich stehe Pete jetzt gegenüber. Käthe hat sich tief in meinem Mantel verborgen und nur ihr Kopf schaut oben am Kragen heraus. Ihr ist das Gerede zu wild und zu viel.
„Aber man kann auch Buddhas,Yidams, Retter und Beschützer, Göttinnen Götter und Helfer – sagst du vielleicht Schutzengel dazu? – einladen und um Hilfe bitten. Es gibt so unendlich viele davon, und die können einem helfen, Humor und Traurigkeit wieder zu finden und zu erhalten. Doch für die großen Schlachten braucht es auch menschliche Helfer so wie Königinnen und Könige, Nonnen und Mönche, Hexen und Zauberer. Die können viel tun. Die können ihrerseits auch sehr mächtig sein!“
Und dann wende ich mich dem Gartentor zu und sage:„So, ich bin da. Ich muss hier hinein.“
Über die Schulter fahre ich fort: „Hoffentlich sehe ich dich wieder! Ich komme auch bald in die Schule. Aber es wäre toll, wenn wir uns vorher schon einmal wiedersehen könnten. Du kannst mich auch besuchen, wenn du dich traust.“
Und Pete brummt: „Hmm…“
Ich bin verwirrt und durcheinander, als ich ins Haus komme. Die Offizierin des Tages nimmt mir die Hundeleine ab und hilft mir schnell aus meinem Glocken-Mäntelchen. Sie tut das sehr rücksichtsvoll und behutsam, als sie merkt, dass ich zittrig bin und aufgewühlt. Nun könnte ich einfach in ihre Arme sinken und mich trösten lassen, aber statt dessen renne ich lieber in mein Zimmer und werfe mich schluchzend aufs Bett.
Ich heule leise in mein gelbes, kuscheliges Kopfkissen…… Warum kann ich nicht auch so ein sommersprossiger Junge sein und frech und frei in den Straßen herumlaufen und spielen?
Ich will mein eigenes Fass ganz für mich allein …
Ciao, Ciao
Euer Winni Quijote