1. Er mag das Eisen nehmen

Meine Jugendfreundinnen bestätigen mir alle, dass Sterben und Tod schon immer eines meiner großen Themen waren, insbesondere auch auf unseren gemeinsamen LSD-Reisen. Möglicherweise wurde meine Neugier sogar in besonderer Weise durch die Einnahme psychedelischer Drogen gefördert? Gleichzeitig bejammern dieselben Freundinnen heute noch – wenn auch mit verbindlichem Lächeln –, wie sehr ich ihnen mit diesen Diskussionen oft auf die Nerven gegangen bin? Natürlich kann ich mich nicht mehr an die genauen Inhalte diese Gespräche erinnern, aber allgemein ging mein Interesse am Thema Sterben und Tod damals, soweit ich mich erinnern kann, schon sehr tief. Ich konnte sehr frech und bohrend sein, und ich bin mir sicher, dass es mir mit meinen Fragen sehr ernst war, Andererseits neigten wir vermutlich damals alle, insbesondere auf LSD – und zwar auch ganz einfach aus Gründen der Selbstverteidigung, also mehr oder weniger aus Angst – zu Zynismus und Übertreibungen. Möglicherweise waren meine Thematisierungen also ganz einfach ein Versuch den Stier quasi bei den Hörnern zu packen? Ganz sicher war mein Interesse am Thema Tod ungewöhnlich? Wobei man nicht vergessen darf, dass Mitte der Sechziger die entsetzlich zugerichteten Leichen des zweiten Weltkrieges noch sozusagen im Raum standen. Meine ganze Familie und Bekannte hatten in den Jahren um das Kriegsende in Bad Godesberg im Lazarett gearbeitet. Aber die Schmerzen und Traumatisierungen, die aus dieser Zeit noch in unseren Eltern nachwirkten, erkannte ich eigentlich erst sehr viel später. Da war etwas, aber wir Jugendliche konnten nicht einmal erahnen was genau da verborgen gehalten wurde, denn unsere Eltern konnten und wollten über die ersten Nachkriegsjahre ganz einfach nicht sprechen. Die Themen waren tabu und das verstehe ich auch, denn so etwas braucht ganz einfach Zeit. Und so nahmen also diese Verdrängungen die sonderbarsten Formen und Auswüchse an, aber wir Kinder konnten uns keinen Reim darauf machen, was mit unseren Eltern oft los war.

Gestalt bekam mein Philosophieren dann, als mir ein Bekannter, nämlich der Schnüss, in der „Barriere“–, einer Jugendkneipe in Bad Godesberg, gegenübersaß, mich bedeutungsvoll anschaute und sagte: Long – so nannten mich die Leute damals – du trägst doch auch das Kainszeichen!? Und deshalb solltest du das hier unbedingt lesen! Und er schob mir eine deutsche Übersetzung von Henry Steel Olcotts Buddhist Catechism zu. „Ich gebe es dir“, sagte er feierlich und bedeutungsvoll, „Und wenn du durch bist, dann gib es an eine andere verwandte Seele weiter!?“ Das Heft war auf Sri Lanka gedruckt, auf billigstem Papier und herausgegeben von einer gemeinnützigen buddhistischen, indischen Gesellschaft. Und so wurde also mein Interesse am Buddhismus geweckt. Ich wurde nämlich beim Lesen quasi Zeile für Zeile total überrascht. Dieser äußerst ungewöhnliche Text war im Stil sehr klar und einfach, wie für Kinder im Kommunionsunterricht geschrieben. Aber jedes einzelne Wort schien mir Sinn zu machen, wobei mir viele der Fragestellungen ganz neu waren. Und tatsächlich hielt ich schon wenige Wochen später, in unserem Internat einen Vortrag zum Thema „Buddhismus“. Ich wüsste zu gerne, was ich damals so erzählt habe. Und wohl gemerkt, unsere Zimmergemeinschaft – wir waren zu viert – gingen damals im Internat mehrmals wöchentlich auf LSD-Forschungsreisen? Was mag ich also damals in diesem Umfeld wohl so über Buddhismus erzählt haben? Leute, die dabei waren, können sich nur daran erinnern, dass ich religiöse Begeisterung ausstrahlte. Aber vielleicht sagen die das heutzutage auch einfach nur, um nett zu sein? Wir Jugendlichen lebten damals in einer sehr konfusen, wendungsreichen und aufgeregten Welt. Die Sechziger eben.

Die Neugier war also geweckt, und so ging ich dann schon bald in unsere Godesberger Buchhandlung und ließ mir Buddhismus bibliographieren. Die angestellten, jungen Mädchen kicherten immer, schon wenn sie mich kommen sahen. Das war natürlich etwas peinlich und unangenehm, aber ich wollte unbedingt mehr erfahren, und von einem Internet wurde damals noch nicht einmal bei Perry Rhodan berichtet. Damals gab es noch nicht einmal ein digitales Verzeichnis der lieferbaren Bücher, denn ich möchte daran erinnern, dass wir immer noch in den Sechzigern sind. Buchhändlerinnen lernten in ihrer Ausbildung, in den beiden superdicken Bänden der lieferbaren Bücher zu suchen – dem VLB und LIBRI. Riesige Nachschlagewerke. Für jedes Jahr erschienen zwei solche Bände. In dem einen Band waren die lieferbaren Bücher wohl nach Titeln und Themen und in dem anderen nach Autorinnen geordnet. Die Mädels – vielleicht waren sie noch in der Lehre – taten sich mit der Suche leider sehr schwer und konnten mir erst einmal nur ein Reclam Taschenbuch mit dem Titel „Buddha“ anbieten. Es handelte sich um eine Sammlung von 52 Lehrreden des historischen Buddha in der Übersetzung aus dem Pali von Dr. Paul Dahlke.

Immerhin: Es konnte losgehen.

Wir – einige Freunde und ich – nannten uns damals Existenzialisten und sympathisierten mit Sartre, Kierkegaard, Huysmans und Camus. Diese Autoren öffneten uns die Augen für Tabus und sozusagen einfach übernommene Vorstellungen, die scheinbar schon lange niemand mehr hinterfragt hatte, die aber unser Leben bestimmten. Ja gut, natürlich waren wir auch alle in der Selbsterfahrungsphase der Pubertät, und wir bewegten uns irgendwie plötzlich steifer, verwirrt und wunderlich. Dazu kam, dass Haschisch und LSD in unser Leben trat, man nannte sie damals die neuen „Jugenddrogen“, und diese Drogen hatten es in sich. Sie veränderten das Lebensgefühl der Jugendlichen in der ganzen westlichen Welt und so auch bei uns.

War diese Welt, in der wir lebten, nicht letztendlich von Menschen einst erfunden und dann über Jahrtausende immer weiter kultiviert worden? Und selbst wenn die ersten bewussten Menschen Adam und Eva hießen, so entwickelten sich Sprachen, Gegenstände und Glaubensbekenntnisse doch erst allmählich, und zwar über Jahrtausende? Die Rolle der Wörter und Worte schien dabei eine große Rolle zu spielen. Die Wörter, mit denen wir alles benannten und mit deren Hilfe wir versuchten, uns alles Untertan zu machen. Diese Wörter waren doch alle von Menschen erdacht worden? Das waren doch eigentlich Erfindungen. Man könnte sagen jedes Wort war ursprünglich ein Zauber aus Klang, jeder zum Zweck uns ein Phänomen nach dem anderen untertan zu machen?

Da gab es dieses herrliche Buch „Tief unten“ (Là-bas, 1891). Hier schwabbelten hinter dem Gewohnten und in Unterwelten das Sein und die Materie und waren nur schwer fest zu machen? Alles war immer in Wandlung begriffen? Das Besondere der Sechziger war wohl, und nicht nur in Deutschland, das Erbe des Zweiten Weltkriegs. Und unsere kriegstraumatisierten Lehrerinnen, Eltern aber eben auch Politiker, Journalistinnen und Philosophen, die sich in einer Art Hardcore-Materialismus versteckten, wofür sie die Rechtfertigungen in der Wissenschaftlichkeit zu finden glaubten. Und sie nannten sich witzigerweise gerne Realisten. Realistisch war in den Sechzigern noch ein sehr starkes und viel benutztes Wort. Übrigens war damals diesbezüglich auch von den Geistlichen keine andere Perspektive zu erwarten. Die waren auch überwiegend mit sich selbst, der Kirche und auf die eine oder andere Weise mit Sex beschäftigt. In den Sechzigern bahnte sich für die Kirchen eine tiefgreifende Identitätskrise an, weshalb es meistens um die Organisation Kirche selbst ging und weniger um Fragen nach dem Sein oder dem Sinn.  Vermutlich hielten damals sogar die Frommsten unter den Geistlichen Bewusstsein für ein Zufallsprodukt von Materie und Dynamik, aus dem sich dann in einem Evolutionsprozess quasi Identitäten entwickelten? Es gab da einen katholischen Kaplan der regelmäßig Kontakt zu mir suchte? Er war unser Religionslehrer und nach der Schule nahm er mich mit in seinen VW Käfer, und dann fragte er mich über Sex und die Sünde der Selbstbefriedigung aus. Tatsächlich wusste ich beim ersten Mal gar nicht was er meinte? Es endete immer mit einem “Komm´ am Samstag in den Beichtstuhl, dann kann ich dich von deinen Sünden freisprechen.“ Ich war natürlich froh, wenn ich ihn wieder los war und vergaß dann natürlich jedes Mal, auch wirklich in seinen Beichtstuhl zu steigen. Ich glaube er hatte es gut gemeint. Er redete scheinbar gerne über Sex.

Ich las und studierte damals regelmäßig meine Existenzialisten, aber irgendwie verstand ich sie nicht wirklich? Ich war ein sehr langsamer Versteher und erahnte Zusammenhänge immer eher, als dass ich sie wirklich verstand. Ich kaute sozusagen sehr langsam, und zwar wie mir selber schien sogar besonders langsam? Begriffe wie Existenz und Materie wirklich zu erfassen, sozusagen zu berühren, das brachte ich noch nicht fertig? Okay: Der Fremde von Camus, das verstand ich. Ich fühlte mich nämlich auch fremd in dieser Welt. Aber im Grunde tasteten wir alle in diesem Existenzialismus quasi einäugig herum. Nur darin, dass wir uns ungewöhnlichen Fragestellungen öffnen wollten, und keine Tabus gelten ließen, darin waren wir uns einig. Je verrückter, desto besser. Dem offensichtlich sehr eitlen und selbstherrlichen Sartre ging es um Selbstdarstellung und Gewichtigkeit. Wollte er ein bedeutender Philosoph sein? Immerhin, mit seiner Sicht, dass es zuerst Existentia und erst dann – also daraus entstand dann Essentia, hat er in meinem Denken weit vorgegriffen. Camus empfand ich dagegen als ehrlich und aufrichtig. Kierkegaard, Max Frisch, auch Hesse und Huysmans die waren mir persönlich näher. Denen fühlte ich mich verwandt. Die waren wie ich, nur eben schlauer und gewandter. Es taten sich neue Welten zwischen Zweifel, Staunen und Verletzlichkeiten auf. Und so entstanden immer noch weitere Fragen. Ein Sinn ergab sich aber nicht wirklich. Erst sehr allmählich gewöhnte ich mich in die Gedanken der Philosophien und Religionen ein, aber ich brachte viel Geduld und Einsatzbereitschaft in die Suche ein, da war ich anders als die meisten meiner Freunde.  Diese Philosophen waren zu ihrer Zeit und in ihren Lebensumständen genau so einsam und Fremde wie wir Hippies, die quasi unfreiwillig in den Sechzigern – nicht zuletzt durch die Drogen – aber auch durch Langeweile und Nutzlosigkeit gezwungen waren, Fragen nach einem Sinn zu stellen. Und wir alle erkannten, also jeder in seiner Zeit, die Lügen und den Unsinn im jeweiligen Zeitgeist.

Nicht zu vergessen, dass eine Art sexueller Befreiungsbewegung unter anderem durch die Erfindungen neuer Verhütungsmittel auf Hochtouren lief. Und die Frauen, die ihre neuen Freuheiten in der Sexualität ausleben wollten, machten uns Männern das Leben auch nicht unbedingt leichter. So kam noch ein ganzes weiteres Universum von Rausch, Wahn, Gefühlen und Dusseleien hinzu. Soweit ich mich erinnere, war Huysmans der draufgängerischste unter allen meinen Autoren und Heldinnen. Und immer wieder die Frage: Was ist hier eigentlich los?

Aber zurück zu Buddha. Ich hatte eine sehr oberflächliche katholische Erziehung genossen, war aber immerhin sogar gefirmt. Gefirmt – das bedeutet witzigerweise „gefestigt“ – das wird man mit vierzehn oder fünfzehn, also so lange war ich wohl bei den Katholiken dabei, denn mit der Firmung war meine katholische Karriere dann ziemlich bald für immer beendet? Wahrscheinlich war bei der Festigung etwas schiefgelaufen und die ganze Mauer ist dabei versehentlich umgekippt?

Jetzt muss ich lachen.

Nun hatte ich also diese Sammlung der Lehrreden des Buddha und las eine Lehrrede des Buddha nach der anderen. Ich stimmte mich in diesen besonderen Ton und Rhythmus ein. Ich mochte es, mich aufrecht hinzusetzen und diese Lehrreden in aufmerksamer und feierlicher Haltung und Stimmung zu studieren. Und der Dahlke hatte zwar sehr nüchtern und aus heutiger Sicht darf ich sagen „sehr oberflächlich“, ungenau und sogar schlecht, aber eben doch auch liebevoll die Lehrreden Buddhas aus dem Pali übersetzt. Es klang etwas steif, lutheranisch und sogar lieblos, und dadurch aber irgendwie wieder wissenschaftlich und sachlich und weniger magisch. Da es so neu für mich war, fand ich es trotzdem stimmungsvoll. Dahlke lag offensichtlich bei aller Nüchternheit die alltägliche Stimmung in der Gemeinschaft der Nonnen und Mönche und der buddhistischen Laien sehr am Herzen. Er hatte diese Atmosphäre lieb gewonnen. Danke lieber Paul! Es war mir damals wirklich eine große Freude diese Lehrreden zu studieren.

Schließlich kam eine Lehrrede, in der ein erfahrener Meisterschüler von Buddha zu seinen befreundeten Mönchen sagte – also sinngemäß -: „Ich bin den Lehren des Gesegneten gefolgt, ich habe alle Übungen und Meditationen vollendet. Ich bin den Pfad vollständig zu Ende gegangen, und immer ehrfürchtig den Anweisungen gemäß, und ich habe vollständige Befreiung vom Leiden erlangt. Jetzt bin ich alt und mein Körper ist sehr krank und dieser Körper leidet und verursacht furchtbare Schmerzen. Ich habe mich deshalb entschlossen …das Eisen zu nehmen…“

Huch?

Wie bitte? Ich wachte auf?

Was war denn jetzt los?

Ich las noch einmal nach, aber da stand es: Dieser Meisterschüler des Buddha wollte sich selber töten, weil das Weiterleben seines schmerzenden Körpers keinen Sinn mehr mache? Das war ja irre! Er schien seinen Körper wirklich ganz einfach nur als Überbleibsel für sein Schicksal zu betrachten, als unnötig, und deshalb wollte er das beenden. Und damit hatte ich – katholisch ethisch – in einem frommen, religiösen Buch ganz einfach nicht gerechnet. War das nicht äußerst arrogant, hochmütig und zynisch, von einem Meisterschüler Buddhas? Okay, bei meinen Existenzialisten hätte ich mich nicht gewundert, aber hier in einem religiösen Sermon? In einer Welt von demütigen Nonnen und Mönchen? Im Weiteren eilten dann die Freunde dieses Meisterschülers zu Buddha und erzählen Buddha, was sein Meisterschüler da im Sinne hätte. Sie flehten Buddha an, ihren verehrten, erleuchteten Freund davon abzubringen, sich selber zu töten.

Was wird Buddha also sagen:

Aber – und jetzt kommt´s! –

Schock!!

Das Ganze zieht sich über mehrere Seiten, wie die Mönche den Buddha mehrmals umwandeln, sich dann niedersetzten und dem Buddha von dem Vorhaben der Selbsttötung mit einem Messer berichteten. Und diese Freunde und Mönche waren entsetzt und außer sich. Und dann der Buddha – niemals werde ich den Moment vergessen, in dem ich das gelesen habe – der Buddha sagte dann also:

„Er mag das Eisen nehmen.“

Wie bitte?

Keinerlei Kommentare oder Einschränkungen oder Erklärungen?

Ich war wirklich so überrascht wie wahrscheinlich bis dahin noch nie in meinem Leben? Das war ja irre? Ein Religionsgründer, ein Heiliger, ein Erleuchteter hat nichts gegen eine Selbsttötung? Er entscheidet ganz nüchtern:

„Er mag das Eisen nehmen.“

Ohne Zögern, klar und deutlich: „Er mag das Eisen nehmen.“

Konnte man wirklich so deutlich zwischen physischem Körper und erleuchtetem Geist unterscheiden, so dass man nach der Erleuchtung einfach den Körper wie eine alte, kaputte Unterhose wegwerfen konnte? Denn anders konnte ich das damals noch nicht verstehen.

Natürlich werden wir alle im Heranwachsen von den philosophischen und religiösen Einstellungen unserer Zeit und Umgebung geprägt. Und in meine christliche beziehungsweise neoliberale Umwelt gehörte die Auseinandersetzung mit einem Freitod, einer Selbsttötung einfach nicht hinein. Mir wurde eigentlich erst jetzt bewusst, dass dieses Thema tatsächlich auch ziemlich tabu war. Dieses: „Er mag das Eisen nehmen.“ rüttelte mich also nachhaltig wach. Eine scheinbar ganz lockere und eindeutige Bejahung der Selbsttötung? Das wurde ja immer spannender und überraschender. Ich wollte möglichst schnell noch mehr erfahren über diesen Buddha.

Bei der aufmerksamen Leserin muss ich mich an dieser Stelle dafür bedanken, dass sie noch da ist und weiterliest, aber ohne diese Vorgeschichte würden meine verrückten Kommentare zum Tibetischen Totenbuch viel weniger Sinn machen.

Ein paar Monate später fand ich mich dann in einer Hindu-Kommune um Sri Aurobindo in Dormagen, wo ich eigentlich war, um eine größere Menge Haschisch zu kaufen. Hier also sah ich dann erstmalig eine Übersetzung des Tibetischen Totenbuchs. Übrigens eine wunderschöne, blaue, gebundenen Ausgabe. Der amerikanische Herausgeber hieß Evans-Wentz. Zugrunde lag diesem Buch die Übersetzung eines tibetischen Lamas, der aber Zweifel daran hatte, ob sein Englisch für so eine Übersetzung gut genug sei. Er bat also seinen Freund Evans-Wentz, seine Übersetzung zu überarbeiten und zu veredeln und dieser Evans-Wentz suchte dann auch einen Verlag und gab es unter seinem eigenen Namen erstmalig 1927 heraus.

In Dormagen auf der Fensterbank lag nun aber nicht die erste Ausgabe dieser Übersetzung, sondern witzigerweise schon die überarbeitete deutsche Übersetzung, die mit über 400 Fußnoten von einem deutschen Lama Govinda versehen war und mit Vorworten von C.G. Jung und einem damals sehr berühmten Indologen mit dem feierlichen Namen Sir John Woodroffe.

Dieser Ashram in Dormagen befand sich in einem modernen Bungalow und bestand hauptsächlich aus einer riesigen Halle, wahrscheinlich ursprünglich als großzügiges Wohnzimmer gedacht und für großzügige Cocktailpartys einer deutschen Wirtschaftswunderfamilie entworfen. Modern. In dem großen Raum standen keinerlei Möbel, es lagen lediglich ein paar Sitzkissen auf dem Boden und ein paar indische Musikinstrumente lehnten an der Wand. Denny spielte gerade auf einer Sitar und Jürgen begleitete ihn auf Tablas. Ein großer weißer, weiter Raum – fast leer. Zwei der Wände bestanden aus mehreren sehr großen Fenstern ohne Vorhänge. Es gab also viel natürliches Licht. Draußen gab es einige ähnliche Bungalows in einer Art unfertigem Satelliten-Vorort? Auf einer der Fensterbänke nun lag also dieses Tibetanische Totenbuch – aufgeschlagen an einer Seite mit einem schwarz-weiß Foto einer typisch tibetischen Darstellung eines Mandalas mit vielen Gottheiten. Vor dem Buch war feierlich ein Räucherstäbchen dekoriert. Als Opfergabe? Wohl gemerkt, befand ich mich in einem hinduistischen Ashram und nicht etwa einer buddhistische Meditationshalle? Dennoch lag hier ein buddhistischer Text tibetischen Ursprungs. Und das war übrigens das einzige Buch im ganzen Raum? Das fand ich außergewöhnlich. Das musste doch ein ganz besonderes Buch sein? Ich hätte in diesem Ashram eher mit einem Buch von Sri Aurobindo gerechnet, denn das hier waren ja seine deutschen Schüler.

Als ich dann also wieder zurück in Godesberg war, eilte ich umgehend zu meinen kichernden Buchhändlerinnen und bestellte – wahrscheinlich mit hochrotem Kopf dieses Tibetanische Totenbuch. Das war also meine erste Berührung. Ich war in bester Stimmung. Ich schwebte! Als ich das Buch schließlich in Händen hielt, fühlte ich mich reich und glücklich – selig. Angekommen?

Was ich damals noch nicht wusste, war, dass dieser Herausgeber dieses Totenbuchs – Mister Evans-Wentz – selber auch in einer hinduistischen Tradition stand und nicht in einer buddhistischen. Und so begriff ich allmählich, wie es zu diesen 400 Fußnoten von einem echten und gelehrten, deutschen Buddhisten – Lama Anagarika Govinda – gekommen war. Und dazu muss man wissen, dass sich der Buddhismus von hinduistischen Traditionen – den Religionen zu Buddhas Lebzeiten – gerade darin besonders unterschied, dass Buddha in Frage stellte, dass es so etwas wie eine Seele (auf Sanskrit Atman), ein Selbst überhaupt gibt? Gemäß Buddha war das Selbst, die Seele, das Ich, eine Illusion, ganz einfach ein Gewohnheitsmuster, aufrecht erhalten lediglich von Erinnerung und Zeit.

Eine Methode Buddhas bestand zum Beispiel darin, alle denkbaren, benennbaren Phänomene geduldig aufzulisten: die Dharmas. Für jedes gibt es ein Wort? Also wirklich alle. Er untersuchte die Namen, ihr Entstehen, ihre Bedeutung und ihr Vergehen und stellte fest, dass es außerhalb davon kein Selbst, kein Ich – kein Atman – gibt.

Da hatte also ein Hindu – dieser Evans-Wentz – bei den Buddhisten einen Text gefunden, in dem er zu erkennen glaubte, dass es darum geht, was mit dem Selbst (mit der Seele) beim Sterben und danach weiter passiert? Der Text sollte bei Sterbenden und Gestorbenen laut vorgelesen werden, und dadurch bekam der Gestorbene die Chance in den ersten Phasen nach dem Tod, also in den ersten Momenten nach dem Tod, also in diesem ersten Ausnahmezustand (Tibetisch: Bardo) sogar  Befreiung vom Leiden beziehungsweise der Selbsttäuschung zu erlangen. In drei darauffolgenden Phasen, im Prozess des Sterbens konnte man zuküftiges Schicksal dann auch noch auf die ein oder andere Art zum Guten wenden. Zusammengefasst: Befreiung durch Hören am Sterbebett, und das während des Sterbevorgangs und den ersten sieben Wochen direkt im Anschluss des Sterbemomentes!

Dass dieser, unter Tibetern sehr weit verbreitete Text, nun ausgerechnet von einem frommen Hinduisten herausgegeben worden war, das war natürlich ein spannender Zufall? Nun war dieser Evans-Wentz aber mit Lama Govinda – einem echten, frommen, sehr deutschen Buddhisten, der auch mit der tibetischen Sprache leidlich vertraut war – befreundet. Lama Govinda klärte ihn nun freundschaftlich darüber auf, dass diese Übersetzung des Tibetische Totenbuches sehr viele Fehler und Mißverständnisse enthalte. Ich habe Lama Govinda später persönlich kennengelernt, und er konnte so etwas so freundlich und liebenswürdig sagen, dass man es ihm nie übelnahm. Dem konnte man eigentlich gar nichts übelnehmen. Evans-Wentz versuchte darauf hin, seinen Verlag davon zu überzeugen, dass es besser sei, wenn Lama Govinda, den Text ganz neu übersetzen würde. Nun waren aber die ersten Auflagen für den Verlag ein richtig großer wirtschaftlicher Erfolg, und der Verlag wollte auf so einen erfolgreichen Kassenschlager nicht verzichten und keine Risiken eingehen. Der Name Evans-Wentz stand aber inzwischen in engem Zusammenhang mit diesem erfolgreichen Buch. Evans-Wentz hatte in Esoterikerkreisen bereits Berühmtheit erlangt. Das Tibetische Totenbuch und der Name Evans-Wentz gehörten inzwischen zusammen, und daraus wollte der Verlag auch weiterhin Profit schlagen. Man einigte sich deshalb darauf, dass Lama Govinda in Fußnoten die missverständlichen Stellen erklären sollte. Das daraus dann über 400 Fußnoten wurden, das konnte man später dann ganz einfache nicht mehr ändern, ohne das Gesicht zu verlieren. Außerdem wählte der Verlag einen Aufsatz von dem damals sehr bekannten Psychoanalytiker C.G. Jung, der die alte Ausgabe bereits gut kannte und liebgewonnen hatte, als eine weitere erklärende Einleitung aus. Dazu kam dann noch das Vorwort eines damals bekannten britischen Philosophen der Indologie, Sir John Woodroffe, der in Indien als Richter gearbeitet hatte und 1938 gestorben war.

Jetzt hielt also ich – ein Godesberger Hippie und Acid-Head – eben dieses Buch in Händen. Und für mich wurde dieses schöne, mächtige Buch sogar ganz besonders wichtig. Von nun an lebte dieses Tibetanische Totenbuch mit mir mit. Immer in meiner Nähe. Es fiel mir aber schwer, den Texten inhaltlich wirklich zu folgen. Ich war ganz einfach noch zu ungebildet? Natürlich fand ich viele super interessante einzelne Ideen, aber das war doch eine ziemlich fremde Welt, in die ich da eintauchte? Ich war ja im Grunde überwiegend vom wissenschaftlichen Weltbild geprägt. Normal war damals sozusagen ein wissenschaftlich-biologisches Weltbild. Und dieses Weltbild – dieser Glaube war fast unüberwindlich!! Und trotz Existenzialismus wurzelte in mir dazu auch noch der Glaube an die Existenz einer Seele, beziehungsweise eines Selbst. Auch ich verstand diese Texte lustigerweise eher wie Evans-Wentz? Das war eben alles noch viel zu neu und fremd.

Aber immerhin hatte ich mich damit abgefunden, überfordert zu sein, und lebte damit aufregend, bunt und gut. Wir waren immer noch Ende der Sechziger. Aber das Buch lebte in mir und schlug erste Wurzeln. Schon alleine – oder vielleicht sogar hauptsächlich – durch seine Existenz nahm dieses Buch täglich Einfluss auf mein Denken, Fühlen und Handeln. Es ist erstaunlich wie wirkungsvoll ein Text sogar durch seine bloße Existenz werden kann, also auch wenn er einfach so herumliegt. Ich arbeitete mich regelrecht ab an diesem Buch, und das, ohne es wirklich ganz durchzulesen und dabei zu begreifen. Mein persönlicher Guru Chögyam Trungpa Rinpoche, hat dann Jahrzehnte später zusammen mit Francesca Freemantle, einer britischen Tibetologin, eine neue Übersetzung mit Kommentar vorgelegt, und daraus ist dann wohl die zweithäufigst verkaufte Übersetzung bis heute in westlichen Sprachen geworden. Ich trug aber jahrelang diesen alten, dicken, blauen Schmöker von Evans-Wentz mit mir herum. Auch auf meiner 15-monatigen Pilgerreise durch Asien begleitete mich das Buch noch lange, und bei jeder Gelegenheit studierte ich Fußnoten und versuchte mich weiter dafür zu öffnen. Übrigens war das Beste an den Fußnoten, dass Lama Govinda zahllose andere Bücher zitierte, und ich nun also einfach in meine Buchhandlung gehen konnte, und Bücher einfach bestellen, ohne mir von den kichernden, albernen Mädels helfen lassen zu müssen.

In Asien suchte ich dann Begegnungen mit tibetischen Meistern und wollte unbedingt Tibetisch lernen, aber auch das fiel mir sehr schwer. Ich lerne und begreife eben eher langsam. Aber dieses edle blaue Buch schaute mich damals täglich an und wirkte auf mich. Danke!