KARMA V

Der nächste Schritt zum Verständnis von Karma ist, das eigene, persönliche Bewusstsein zu verstehen, beziehungsweise eben dieses Verständnis dann auch wieder mehr und mehr loszulassen. Es ist wie beim Tanzen: Zuerst erlernen wir Schritte und Bewegungsfolgen, aber dann irgendwann müssen wir sie vergessen und los tanzen und geschehen lassen. Magische Welt braucht diese tänzerische Qualität.

Wir Menschen sind uns unserer selbst bewusst, ohne darüber nachzudenken. Es gibt viele Gelehrte die behaupten, dass sei der Unterschied zwischen Mensch und Tier, dass der Mensch sich dem Bewusstsein seiner selbst bewusst sein kann. Das Phänomen Bewusstsein wird beschrieben durch einen Begriff, der sich zusammensetzt aus wissen und sein. Wir wissen von unserem Sein. Bewusstsein. Ich weiß und bin mir sehr sicher, dass ich – Winfried der Quiijote – existiere. Das ist das Bewusstsein von mir selbst. Ich bilde mir ein, dass ich weiß wer ich bin.

Als Randnotiz: Es wäre eine schöne Variante statt von Bewusstsein von „Begriffensein“ zu sprechen, oder Berührtsein oder Verstandensein. Ich mag das Wort „begreifen“. Ich bin ein Fan von dem Wort „begreifen“ weil es tiefer geht als „wissen“. Es gibt Leute die viel wissen, aber eigentlich verstehen bzw. begreifen sie das was sie wissen gar nicht.  Und zwar verblüffend überhaupt nicht. Mein zauberhaftes uraltes Mütterlein – hatte das gemeint, wenn sie giftig und abwertend über jemanden gesagt hatte: „Das ist ein Zyniker!“. Sie war sich dessen nicht bewusst, aber sie meinte damit, dass jemand weiß aber nicht begreift. Gerade im Zen Buddhismus – den buddhistischen Schulen aus Japan – beziehungsweise im Chan Buddhismus – den chinesischen Ursprüngen dieser japanischen Schulen – gibt es sehr viele herrliche, zauberhafte, wundervolle Übungen, mit denen die Meister oft verzweifelt versuchen, ihre Schülerinnen vom Wissen zum Begreifen zu führen. Darum geht es im Zen Buddhismus ausgesprochen oft, und ich halte das auch für äußerst wichtig und besonders hilfreich und heilsam. Ich selber hatte ja in meinem bewegten Leben Kontakt mit Vertretern der unterschiedlichsten religiösen – meistens buddhistischen Schulen – sehr vieler unterschiedlicher Traditionen aus aller Welt. Das hing zum Teil mit meinem Job als Sekretär von Sakyong Mipham Rinpochen zusammen. Als Sekretär war ich zwar hauptsächlich politisch tätig, aber dabei bin ich Leuten natürlich oft sehr nahe gekommen und konnte sie spüren. Jedenfalls gibt es dieses Problem von Wissen und Begreifen überall zum Beispiel natürlich auch in der Kunst. Gerade besonders gute Kenner des Buddhismus begreifen oft weniger, als eher ungebildete Buddhisten die einfach vom Gefühl und vom Herzen her studieren und meditieren und Messen zelebrieren. Kurz gesagt behindern Schlauheit, Intelligenz und viel Wissen, die Erkenntnis und Befreiung im buddhistischen Sinne meistens sogar. Ein klassisches Beispiel ist die Lebensgeschichte des indischen Yogi Naropa. Übrigens eine tolle Story!!! Puh! Das war jetzt aber eine lange Randnotiz?

Also zurück: Das Bewusstsein von mir selbst. Ich bin ich.

Leute diskutieren gerne darüber ob es Wiedergeburt gibt – Reinkarnation – und fragen sich seltsamer Weise dabei oft gar nicht, was von ihnen denn da eigentlich wiedergeboren werden könnte. Sie sehen sich da mit ihrem „Phantomkörper“ der genauso aussieht und anfühlt wie der aktuelle Körper, in Nachtodwelten herumgeistern. So einen Phantomkörper stellen wir uns ja auch im Traum oft vor. Der lebendige Körper wird nach dem Tod sehr schnell zerfallen, verfaulen oder verbrannt. Der Körper-Körper ist also dann weg. Und uns ist auch klar, dass viele Bewusstseinsarten ohne Körper nur schlecht gehen, zum Beispiel Sehbewusstsein, Riechbewusstsein, Tastbewusstsein, Schmeckbewusstsein, Schmerzbewusstsein etc. Aber Halt!!! Wenn wir träumen haben wir da nicht auch Sehbewusstsein und Tastbewusstsein und Schmerzbewusstsein? Nun wir haben eben Erinnerungen an diese Eindrücke?

Auf diese und ähnliche Weisen sollte man ab und zu über die Bewusstseinsarten nachdenken. Einfach hin und her überlegen, ersinnen und erspüren, in sich hinein horchen. Sich selber fragen, wie das denn im Traum war etc. etc. etc. Tolle Überlegungen! Wichtige Übungen!

Und damit kommen wir zum Erinnerungsbewusstsein. Das ist heutzutage eine sehr spannendes Bewusstseinsart, weil wir heutzutage im Alltag häufig Demenz und Alzheimer begegnen. Früher sind Menschen zu manchen Zeiten nicht so alt geworden, und deshalb vermute ich, dass Alzheimer früher nicht so gegenwärtig war wie es das heutzutage ist. Wahrscheinlich lief Alzheimer früher einfach unter Demenz? Das wirft aber die Frage auf: Könnte es etwa sein, dass Erinnerung auch den körperlichen Bewusstseinsarten zuzurechnen ist? Ich vermute, dass -ja- viele Bereiche von Erinnerungen tatsächlich eher den Körperbewusstseinsarten zuzurechnen sind (also eher mit den Vorgängen im Gehirn, der Medula Oblongata und der Wirbelsäule zu tun haben), dass es eben aber auch Erinnerungen gibt, die nur zum: „Ich weiß doch wer ich bin!“-Bewusstsein gehören.

Das könnte bedeuten, dass zum Zeitpunkt des körperlichen Todes das Bewusstsein von sich selbst gemeinsam mit bestimmten Erinnerungsfeldern weiter agiert. Wir kennen das vom Schlaf und Traum, von Narkose und Meditation.

Ich will keinesfalls den Spaß daran nehmen, mit Familie und Freundinnen über Nachtod Erfahrungen zu diskutieren. Nur zu! Egal auch wenn es oberflächliches Geplapper ist. Ich glaube, dass sich die Leute zur Zeit viel zu wenig Zeit für solche Diskussionen und solches Geplapper nehmen. Und glaube nu jaah nicht, dass solche Gespräche nur Fachleute führen sollten. Im Gegenteil! Für mich – als Fachmann – sind es große und echte Vergnügen und Bereicherungen bei solchen Diskussionen dabei sein zu dürfen und einfach zuhören zu dürfen. Unschuld offenbart oft viel mehr als Erfahrung und Kenntnisse. Ich habe ja in meinem Leben sehr oft Schulkinder unterrichtet, und von denen habe ich wahrscheinlich mehr gelernt, als irgendjemand von mir.

Dafür ein Beispiel:

Es gibt eine frühe Übersetzung des sogenannten Tibetischen Totenbuches von einem Herrn W.Y. Evans-Wentz. Dieser Herr Evans-Wentz konnte selber überhaupt kein Tibetisch. Er war Indologe. Er kam aus einer hinduistischen Tradition, mit der er aufrichtig, echt und tief verbunden war. Er war durch und durch Hinduist, war sich aber nicht bewusst, wie grundlegend sich Hinduismus von Buddhismus unterscheidet. Nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass zum Beispiel die Hindus viele gleiche Göttinen und Beschützerinen haben und auch philosphische Begriffe, wie zum Beispiel Karma, Dharma oder Shunyata wie die Buddhisten. Aber die Bewunderung von Evans-Wentz für den Text „Bardo Thödol“ auf den dieser berühmte Bestseller „Das Tibetische Totenbuch“ zurück geht, war sehr edel und aufrichtig. Es kam so, dass er mit einem tibetisch-buddhistischen Mönch befreundet war, Lama Kazi Dawa Sandup, der ihm seine Übersetzung dieses Textes gezeigt hatte. Da dachte Herr Evans-Wentz: „Das ist ja ein fantastischer Text, den man unbedingt der Öffentlichkeit zugänglich machen muss. Aber das Englisch des Mönchs ist nicht so gut und der versteht die Wörter der Psychologie und Esoterik im Englischen nicht so gut, so dass ich seine Übersetzung überarbeiten muss.“ Die vorliegende Übersetzung schien ihm einfach zu ungenau. Daraus entstanden dann die erste Ausgabe des Tibetischen Totenbuches. Dieser Evans-Wentz war wahrscheinlich ein ganz netter und offener Mensch, und wollte nur das Beste für die lesende und das Sein studierende Menschheit. Es war ihm nicht bewusst, wie hinduistisch er die Übersetzung für die ersten Ausgaben des „Buddhistischen Totenbuches“ geprägt hatte. Nun wurde Lama Govinda, ein buddhistischer Gelehrter, der auch hoch oben im Himalaya in Almora mit seiner Frau Li Gotami lebte, studierte und übersetzte aufmerksam (ich durfte diese beiden netten alten Leute später persönlich kennenlernen. Sie waren wirklich sehr liebenswert, aber auch etwas weltfremd.). Jedenfalls war auch Herr Evans-Wentz damit einverstanden, dass Lama Govinda den Text ganz neu übersetzen sollte. Aber da haben die Verleger damals nicht mitgemacht. Der Text: Das Bardo Thödol, „Das Tibetische Totenbuch“ war bereits weltweit ein super VerkaufsHit und die Verleger hatten keine Lust, den Strom dieser Begeisterung und den Fluss des wirtschaftlichen Erfolgs zu stören. Also erlaubte man Lama Govinda nur, die bereits erfolgreiche Übersetzung mit Fußnoten zu versehen. Dadurch kam es dann zu den 400 Fußnoten!!!!? Das war auch schon damals lustig und auch albern, aber man konnte das auch so verstehen, dass es darum ging Sorgfalt und Wissenschaftlichkeit zu betonen. Dann durfte der damals super berühmte Psychologe C.G.Jung auch noch ein Vorwort dazu schreiben (auch das bei allem Respekt für C.G.Jung völlig daneben und fehl am Platz) und fertig war ein super tolles dunkelblau gebundenes, edles Buch: „Das tibetische Totenbuch“. Ein weiterer Kassenschlager war geboren und erst dieses Jahr ist eine neue Auflage davon erschienen, obwohl inzwischen wirklich jeder weiß, was für ein galoppierender Unsinn eine weitere Neuauflage eigentlich bedeutet. Ich hatte das dicke Machwerk damals als Pilger auch durch ganz Asien geschleppt und sehr sehr viel daraus gelernt, und erst als ich halbtot von einer Lungenentzündung keine Kraft mehr hatte, so dicke Bücher weiter zu schleppen, habe ich es hoch im Himalaya im Kulu Valley (Treffpunkt von Göttern, Geistern, Dakinis (weibliche Engel), Wermas (kriegerische Beschützer (so wie der Engel Michael mit Rüstung und Waffen)) Dralas (männliche Beschützer) und Orakel) in meinem fast Sterbeort – einer großen HolzBlockHütte, so wie im wilden Westen in den Western – also da habe ich das Buch zurück lassen müssen. So jetzt bin ich endgültig ans Plappern gekommen??? Aber man kennst das ja von mir schon. Versuche es einfach zu genießen. Übrigens – wo ich mich sowie so schon weg geplappert habe , auf Grundlage dieser Übersetzung des Tibetischen Totenbuches hatte dann der „Gottvater“ der Bewusstseinserweiterung durch LSD in den Siebzigern: der Psychologie Professor von Harvard University Timmothy Leary seinThe Psychedelic Experience: A Manual Based on the Tibetan Book of the Dead geschrieben. So kann das gehen: Halbwahrheiten werden kommentiert und dann die Kommentare wiederum kommentiert und worum es in dem ursprünglichen Text ging, davon bleibt oft nicht viel übrig. Aber andererseits kann man natürlich auch positiv sagen, dass eine missverstandene Übersetzung von einem klassischen tibetischen Text riesige Wellen in den Welten von Psychologie, Esoterik, Philosophie, Kunst und spirituellem Forschen geschaffen hatte. Ohne das was dieses Buch ausgelöst hatte, gäbe es heute nicht eine so reiche und tiefe Tibetforschung und so viele super gute Übersetzungen aus dem Tibetischen und eben auch die Gelder dafür!

Aber worin liegt denn eigentlich der Unterschied zwischen den hinduistischen Sichtweisen und den buddhistischen Sichtweisen? Das Problem ist das „Selbst“ (skr. atman). Wir Buddhisten halten dieses Selbst, dieses Ich – also das ganze Selbstbewusstsein von Winfried dem Quijote mit allem Drum und Dran –  für illusionär. Sehr schön, aber letztendlich eine Täuschung. Puh! Da war ich verschwunden, weg und aufgelöst? Ein stabiles Selbst, so wie es für Hinduisten besteht, oder für Christen die Seele, das halten wir Buddhisten für eine Täuschung. Was dieser Täuschung unter Anderem Stabilität gibt und stützt sind Gewohnheit und Geschwindigkeit. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf meine Ausführungen in Karma IV. Das überaus Witzige an alle dem ist, dass ausgerechnet dieser Text, auf dem das Tibetische Totenbuch basiert, genau dort ansetzt. Da kann man wirklich einmal von „Ironie des Schicksals“ sprechen.

Diese Täuschung von einem konkreten, festen Selbst besteht meistens über den Tod hinaus. Die Illusion eines Ich-Bewusstseins und bestimmte Arten von Erinnerungsbewusstsein gehen auch nach dem Tod weiter. Gewohnheit und Geschwindigkeit gehen über den Tod hinaus einfach oft weiter. Aber noch einmal: Die Natur von jeder Art von Bewusstsein ist leer und ohne Substanz. (siehe Karma IV).

Dieser Teil des Erinnungsbewusstseins, dass über den Tod hinaus weiter mit uns verbunden bleibt, hat übrigens direkten Anteil am universellen, allumfassenden Erinnerungsbewusstseins. Es besteht da eine Verbindung mit allen Erinnerungen die es überhaupt gibt? Also auch jetzt schon hätte jeder theoretisch Zugang zu allen Erinnerungen aller Welten? Darauf komme ich vielleicht später einmal zurück?

Soviel für heute. Euer Winfried der Quijote