Guten Morgen liebe Leute!
Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt, auf Morgenlandfahrt, versuche seit Monaten nach dem Pilgerideal zu leben, liege jetzt gerade mit Gelbsucht bei einer verschworenen Gruppe von Jesus-Freaks, die von Delhi aus die Christianisierung Asiens vorantreibt, in Quarantäne, genieße nach all´ den Monaten des Einzelkampfs bis hin zu Armut und Bettelei, jetzt hier Geborgenheit, Sicherheit, regelmäßiges Essen, Luxus, und trage dennoch, sogar hier im Bett, meinen selbstgenähten Schulterhalfter mit Pass und Geld, und vergewissere mich sogar hier ab und zu, ob noch alles da ist.
Ich glaube, ich stecke mitten in der größten Existenzkrise meines bisherigen Lebens! Hilfe!
In meinem Zimmer ist es eigentlich herrlich. Tolles Licht, gefiltert von den Ästen eines Baumes, dringt besonders jetzt am Nachmittag in mein karges, weiß gekalktes Zimmer, durch ein fünfzig mal fünfzig Zentimeter kleines Fenster hoch über meinem Bett. Ein Farbenspiel auf der Wand gegenüber, oberhalb des Stuhles auf dem die Gäste Platz nehmen, nachdem sie ihre Hände unschuldig in den Eimer mit Desinfektionsmittel gesteckt haben.
Es war so toll gewesen, endlich einmal ruhig und tief zu schlafen. Diese Geborgenheit! Einfach göttlich. Es kam mir entgegen, dass ich die meiste Zeit in meinem Zimmer alleine war. Ich fand mich völlig verwirrt und es war wichtig, endlich einmal zur Ruhe zu kommen und mich selbst wieder zu finden. Von unten klangen die Geräusche aus dem Gemeinschaftsraum – dem Wohn- und Esszimmer – herauf. Dort fanden Versammlungen statt. David, der Chef, predigte da unten regelmäßig, aber dort saßen die Insider und die Gäste auch einfach herum, wenn sie nichts zu tun hatten. In diesem Zimmer gab es sogar einen westlichen Wohnzimmerschrank, Regale eine richtige amerikanische Sitzecke und zusätzlich einen großen Esszimmertisch mit Stühlen – eine Essecke. Alles ungewöhnlich westlich. Es gab Dekorationen aus Korbgeflechten, und an einer Wand lehnte eine kleine selbstgebaute Sitar. Die indischen Meister der Sitar sahen sich Ende der Sechziger von einem Strom westlicher Schüler überfordert und bremsten die Heißsporne erst einmal aus, indem sie sie ihre eigene Sitar bauen ließen. Das dauerte lange und kühlte die Begeisterung etwas ab, und die Sitarmeister fanden etwas Zeit ihr Geld auszugeben.
In diesem Gemeinschaftsraum fanden ab und zu auch die geheimen Sitzungen nur für die echten Insider statt. Man saß dabei in einem engen Kreis. Es begann dann sehr bald zu summen und ab und zu brummelte oder stöhnte auch schon einmal jemand – das ergab eine magische Atmosphäre. Es entstand eine intime Zusammengehörigkeit, in die hinein dann sehr bald jemand anfing zu erzählen, während wir weiter summten und brummten, und sagte dann zum Beispiel: „Ich ging da und da lang und dachte über mein Problem nach, und plötzlich wusste ich: Johannes, 12, 36, zweiter Halbsatz. Und ich lief schnell nach Hause und schaute nach was da geschrieben stand……“. Alle Eingebungen waren von dieser Art. Immer erzählte jemand, wie plötzlich ein Halbsatz über ihn kam und er wusste, was er zu tun hatte, und so erzählte einer nach dem anderen. Irgendwann gab es eine lange Pause und ich war sicher, dass war der Moment für meinen Halbsatz, ich rang verzweifelt nach einer Eingebung, aber mir fiel nichts ein, und so übernahm nach einingen Seufzern und Stöhnern jemand anderes und so ging es weiter…..
Aber halt, ich komme vom Thema ab: Meine existenzielle Krise!
Und das kommt so. Eben war Jean-Pierre hier, der Jean-Pierre von „Amelie und Jean-Pierre“. Meine Jesus-Freaks hatten die beiden in der Mehrauli Mission aufgegriffen und mitgenommen. Sie waren der Meinung, man müsse die Beiden vor sich selbst beschützen. Jean-Pierre und Amelie sind die echtesten und aufrechtesten Hippies, denen ich je begegnet bin. Die meinen das „Ja“ zu Lebensfreude, Liebe und Gleichheit ernst. Die beiden lieben sich aus tiefstem Herzen, bleiben aber besonnen und kritisch dabei. Sie sind schon fast dreißig und nicht blöde. Sie sehen sich ungewöhnlich ähnlich, zum einen wohl deshalb, weil sie beide algerische Väter haben, aber außerdem tragen sie auch Kleider und Haare sozusagen im Partnerlook. Die Haare sind wie bei den Sadhus: rastafarimäßig unter zur Hilfenahme von Kokosfett zu Strängen verfilzt und es sind viele bunte Bänder mit eingeflochten. Das ist nicht nur lustig und bunt, sondern hält auch die Läuse einigermaßen in Schach.
Die beiden haben vor zwei Jahren eines Tages entschieden, ganz auf den Umgang mit Geld zu verzichten!!
Und es ist umwerfend, welche Leichtigkeit und Unbeschwertheit das bei ihnen bewirkt. Sie hatten sich nur aus Geduld und Freundlichkeit heraus in den Luxus der Christengemeinde komplimentieren lassen, aber sie wollten nicht lange bleiben, denn das Baby sollte in Goa am Meer zur Welt kommen. Das hatten sie den Christen auch erklärt, aber die gingen davon aus, dass die beiden sich das überlegen würden, wenn die Entbindung näher rücken würde. Ich schätze, sie waren im siebten Monat. Nun könnte man sagen, das ist aber naiv, denn jeder weiß doch, dass es in Goa krieselt, und der Traum von Liebe und Frieden dort bereits schmerzlich von Kommerz und Profitsucht gestört wird. Aber über so etwas redeten sie nicht. Vielleicht wussten sie es nicht. Ich war mir dessen ja auch nicht sicher und es kann weise sein, Gerüchte zu ignorieren. Sie strahlten einfach, glücklich, und so hell, dass alles andere ziemlich egal war. Mit Geduld ließ sich für sie jedes Problem lösen. Geduld, das war ihre Tugend und ihre Waffe. Von der Kleidung her hätten sie Ureinwohner von Südamerika sein können, Inkas oder Mayas. Nicht, dass jetzt der Eindruck entsteht, die beiden seien auch auf einer Mission gewesen. Überhaupt nicht! Sie genossen es einfach nur glücklich zu sein. Sie wollten nichts beweisen und nichts verändern, dafür waren sie ganz einfach zu zufrieden. Und jetzt sollte ein Baby kommen – die Krönung ihres Glücks. Vielleicht wurden sie selber anfangs davon überrascht, wie einfach es war, ganz ohne Geld zu leben, und stattdessen mehr auf Geduld und Brüderlichkeit zu setzten. Sie mussten einfach nur immer wieder erklären, dass sie mit Geld nichts zu tun haben wollten, und verrückterweise verstand das jeder sehr schnell und fand es toll, natürlich auch deshalb, weil die beiden so charmant waren.
So, und jetzt kommen wir zu mir. Ich liege hier mit meinem sorgfältig gepflegtem Pilgerideal, von großen Denkern und Erzählern inspiriert, und weiß plötzlich gar nicht mehr, worum es mir dabei eigentlich geht. Tatsache ist doch, dass ich Tag und Nacht zwanghaft Pass und Geldbeutel umklammere!???
Das Gespräch mit Jean-Pierre eben war eine Begegnung von zwei Herzen.
Nun war es so, dass ich auf einer Zugfahrt einem Deutschen fünf taubeneigroße Kugeln Haschisch aus Manali abgekauft hatte. Ich war zwar Pilger, und ich hatte das Kiffen aufgegeben, aber der Möglichkeit, ganz günstig das beste Haschisch der Welt zu erwerben – und ich kannte mich aus (und diese Kugeln waren wunderschön) – hatte ich nicht widerstehen können. Nun war mir aber gerade klargeworden, dass ich nach dieser Gelbsucht mindestens ein Jahr lang auf Alkohol, Gebratenes und auch jede Art von Drogen komplett verzichten musste. Aus einer Stimmung heraus, die ganz sicher wieder vom Schalk, Übermut aber auch Weitsicht meiner Las („Schutzengel“) angeregt war – einer plötzlichen Laune -, suchte ich nach dem Säckchen mit den Kugeln und warf Jean-Pierre, quer durch den Raum zwei Kugeln davon zu. Der grinste, verneigte sich und steckte sie ein. Kurz darauf verließ er mich. Ich war sicher, dass dieser schmuddelige und zerzauste Hippie in diesem Moment einer der weisesten Menschen von ganz Delhi war!
Am späten Nachmittag betritt die Frau des Predigers meine Existenzkrise – die hübscheste aller Frauen an Bord – freudig, Hände klatschend und mit einer Überraschung für mich.
Du darfst raus! Der Arzt hat es entschieden.
Du kannst herunterkommen und dich zu uns setzten. Die Quarantäne ist vorüber.
Ich springe also in meine Klamotten und gehe erstmalig wieder unter Menschen. Unten lesen einige Leute, andere sind mit Handarbeiten beschäftigt und ich setze mich gut gelaunt dazu. Jean-Pierre und Amelie sind auch da. Sie strahlen noch mehr als sonst über alle Backen und scheinen besonders gut drauf zu sein. Jean-Pierre steht auf und greift sich die Sitar. Er setzt sich hin und so wie er das Instrument hält, ist es nicht das erste Mal, dass er mit so etwas umgeht. Er legt den Bauch der Sitar fachmännisch in seine linke Kniebeuge, denn es ist eine kleine Sitar, und beginnt entschlossen, aber vorsichtig und gefühlvoll mit den Klängen und den Schwingungen im Raum, den Echos und Verstärkern Kontakt zu machen. Schon der erste Ton ist eine Offenbarung und verwandelte und verzauberte den Raum. Er macht himmlischen, sphärischen Etnosound. Beginnt sehr langsam und bedächtig, leicht und träumerisch. Ganz ohne Rhythmus bis er es dann später einige Male recht temperamentvoll für Momente rocken lässt. Er legt allen im Raum seine Seele zu Füßen. Er spielt von Unschuld, Freude und Wagemut. Ein großer Moment in meinem Leben. Und er spielt ausdrücklich für mich – Balsam und Ermutigung –, was die andern glücklicherweise nicht mitgekommen. Sein Englisch ist miserabel, aber diese Musik ist präzise und deutlich. Ich höre aufmerksam zu und sehe ihn an und lasse mich behandeln und heilen. Die anderen im Raum freuen sich auch über die Musik, messen ihr aber keine besondere Bedeutung bei. Nach einer halben Stunde steht Jean-Pierre auf und verbeugt sich tief vor mir, die Sitar noch in einer Hand – wie im Scheinwerferlicht – und für einen Moment trägt er einen Frack. Dann stellt er das Instrument zurück an die Wand. Das Pärchen strahlt mich dankbar an und ich strahle zurück und verneige mich ebenfalls, die Hände in Anjali, also vor dem Herzen feierlich aneinander gelegt. Natürlich ist die bohrende Frage nach dem Sinn meiner Reise nicht beantwortet, aber die Heilung war eingeleitet. Übrigens tanzten meine Las – von allen Anwesenden unbemerkt – mit dem Licht, mit den Klängen und mit der Zeit einen verspielten Reigen.
Außer Jean-Pierre und den Hippies hatten meine Gastgeber von der Mehrauli Mission noch einen deutschen Ex-Junkie mitgebracht. Der hatte seine Junk-Besessenheit gegen Jesus-Besessenheit eingetauscht. So etwas kam häufiger vor, Christentum, Hare Krinshna und Islam scheinen sich für derartigen Wandel anzubieten. Dieser Jürgen ging den Fachleuten meiner Christengemeinde viel zu weit und ungeheuer auf die Nerven, aber sie konnten ihn schlecht bremsen und setzten einfach auf Zeit.
Geheimnisse und Verschwörungen können eine Gemeinschaft für lange Zeit zusammenschweißen. Meine Jesus-Freaks arbeiteten tatsächlich ins Geheim an der Christianisierung von ganz China, abgesehen von der Christianisierung Indiens. Die hatten also einiges vor. Das ist kein Witz! Entscheidend war, dass irgendwoher große finanzielle Unterstützung kam – ich glaube aus Deutschland und Australien -, und das wurde dann zum Teil von hier über Delhi aus nach China geschmuggelt, um dort erst einmal eine erstklassige Übersetzung der Bibel zu ermöglichen. Das war eines der großen „Geheimnisse“! ? Und solche Interna – je verrückter desto besser – fördern die Leidenschaft und können einer Gruppe so über Jahre Kraft und Energie geben und durch Dick und Dünn tragen.
Doch wenn man mit Geheimnissen und Verschwörungen lebt, dann schleichen sich leicht auch Misstrauen, Täuschung und Verwirrung ein.
So nahmen die Zufälle ihren Lauf und am nächsten Morgen weckten mich Aufregung und Geschrei. Ich kam zum Frühstück und man erklärte mir, man habe Jürgen und das französische Pärchen zurück zur Mehrauli Mission gebracht. Die drei hätten gegen die Hausordnung verstoßen, denn Jürgen habe den beiden Drogen besorgt. Ich machte ein unschuldiges Gesicht. Ich wusste wirklich nichts von einer Hausordnung!
Ich will jetzt auch weg, bin aber einfach noch zu schwach. Ein paar Tage muss ich noch durchhalten. Ereignisreiche Tage wie sich zeigt.
Die Bewohner des Hauses werden von Tag zu Tag unruhiger, pickeliger und zerzauster. Es gibt offensichtlich ein Problem, aber welches? Diese Christen sind sehr prüde und es gibt unendlich viele Tabus. Es gibt einen Gebäudetrakt für die Männer und einen anderen für die Frauen. Selbst David und seine Ehefrau wohnen nur am Wochenende gemeinsam in Davids Räumen. Schließlich platzt die Bombe und David erhebt sich beim Frühstück und erklärt sehr ernst, wobei ich das Lachen kaum noch zurückhalten kann: „Liebe Leute, wir haben ein Problem! Im Haus gibt es Flöhe und Wanzen. Ich habe zwei Kilo DDT gekauft und es gibt einen Plan nach dem wir alle hintereinander duschen und dann neue gekaufte Kleider anziehen. Alle Kleider müssen in die Waschküche und müssen sofort gereinigt werden. Die Zimmer werden mit DDT bestäubt und wir müssen uns dann einen halben Tag außerhalb der Gebäude aufhalten. Wenn alle anpacken, ist das Problem heute Abend aus der Welt. Und so ist es dann auch, und eigentlich erleben wir einen wirklich schönen und ehrlichen Tag, einen Tag der Reinigung und Befreiung. Wüßte ich nicht zu gut, wie die Flöhe ins Haus gekommen sind, würde ich vermutlich meine Las, meine treuen und segensreichen Schützer und Begleiter dafür verantwortlich machen.
Es ist höchste Zeit, mich zu verabschieden! Ich glaube, ich bin über diese Existenzkrise zum Suchenden gereift und weiß jetzt, dass ich eigentlich keinen Plan davon habe, was oder wohin ich will, aber das wenigstens verstehe ich besser und deutlicher, das wenigstens habe ich etwas verinnerlicht und an mich ran gelassen…oder…..? ? Man wird sehen……
Ciao ciao
Euer Winni Quijote