Guten Morgen liebe Leute!
Man gewöhnt sich daran, dass es in den Straßen von Kabul in den Siebzigern keine afghanischen Frauen gibt, sowenig wie Litfaßsäulen mit Werbung voller sexy Andeutungen. Dafür sind die Männer eitler, weiblicher, verspielter, sanfter, fast schon tuntig – sogar die wilden starken Kerle. Auch in den Hotels arbeiten keine Frauen. Nicht einmal in den Küchen? Klar, da sind so einige Hippie-Mädchen und Hippie-Frauen, und die trifft man natürlich auch auf der Straße, oder zum Beispiel hoch zu Pferd, wie Maria eines Tages vor dem Peace Hotel, gehüllt in wehende Tücher und mit wallendem kastanienbraunen Haar. Und dann hebt sich das etwas aufgeregte Pferd vor dem Peace auch noch auf die Hinterbeine – ich bin nicht sicher, ob das beabsichtigt ist; jedenfalls entdecke ich bei Maria keine Überraschung oder Angst – . Irre, dieses italienische Teufelsweib! – Hat das Pferd überhaupt einen Sattel? – Eine Walküre auf einem Wildpferd. Gibt es Schöneres? Oh, könnte das Sein an dieser Stelle doch einfach stehen bleiben! Ich träume…. bei fünfzig Grad Celsius, trockener Luft und mit Sand in der Nase…..
Aber Moment einmal! Halt! Ich wollte eigentlich etwas ganz anderes erzählen…
Wir Männer sind hier in Afghanistan weitestgehend unter uns, denn die ausländischen Frauen hier bilden im Verhältnis zu den Männern eine zu vernachlässigende Minderheit. In den Geschäften, öffentlichen Küchen, Teehäusern: überall sitzen auf den Teppichen nur Männer. Sie putzen, maniküren und knipsen leidenschaftlich ihre Fingernägel und legen immer wieder aufs Neue ihre Turbane, genießen das Dasein.
Irgendwann einmal in der Mittagszeit sehe ich überraschend in einem Stadtteil beim Spazieren dann doch ein paar junge Mädchen, so zwischen elf und sechzehn, in britischen Schuluniformen – blauen Röckchen, hellblauen Blusen und marineblauen Uniformjacken mit Schulemblemen – und Pferdeschwänzen – ohne Kopftücher oder Kopfbedeckung. Wahrscheinlich kommen sie vom Unterricht und huschen schnell nach Hause. Flüchtige kurze Erscheinungen, die mich an eine andere Welt in einer anderen Zeit erinnern. Es dauert nur wenige Minuten, aber es bleibt der Eindruck von Ausgelassenheit und Spiel. Die Freude von Kindern die die Schule hinter sich lassen.
Ich spaziere in diesem Viertel weiter herum und entdecke einen Lederladen. Es gibt hier verschiedenste kunsthandwerkliche Geschäfte. Da werden die Waren nicht nur verkauft, sondern man kann dabei zusehen, wie sie hergestellt werden: Taschen, Hüte, Gürtel, Hemden, Tücher, Chillums, Döschen, Haarschmuck und so weiter, viele, viele bunte, teilweise sehr liebevoll handgemachte Gebrauchsgegenstände. Die Hippies reißen den Händlern alles aus den Händen, dankbar für die Ablenkung, dankbar dafür das es überhaupt „etwas“ gibt. In den Siebzigern fehlt es in Kabul noch an allem. So findet man nur sehr schwer Scheren, Messer, Pfeifen, Zahnbürsten, Seife, Fingernagelknipser und so weiter. Alltägliche Gebrauchsgegenstände muss man lange suchen und findet sie oft dann nur second hand. Apropos Fingernagelknipser: Fast jeder Afghani hat dennoch einen. Die sind ganz verrückt nach diesen Dingern. Da muss es irgendwo LKWs voll davon geben, denn jeder Afghani der etwas auf sich hält spielt den ganzen Tag mit so einem Knipser herum – scheinbar die bedeutendste Errungenschaft der amerikanischen Welt, die man sich außerdem so gerade noch leisten kann.
Doch bevor ich diese Geschichte weitererzählen kann, bitte ich meine Leser, mir kurz ein paar Monate zurück in die Vergangenheit – zurück nach Deutschland – zu folgen: Ich bin zwanzig und angestellter Arbeiter in einer Stoßdämpferfabrik im Bonner Stadtbezirk Bad Godesberg. Wenn auch der jüngste Mitarbeiter, war ich weder studentische Hilfskraft noch Lehrling. Ich war richtiger Arbeiter, und das war mir wichtig. Niemand trug seinen Blaumann so stolz und bewusst wie ich.
Weil ich der Jüngste war, wurde ich von den Leuten in meiner Abteilung – der Halle mit der Galvanostraße – immer zum Einkaufen in die Kantine geschickt. Mir war bewusst, dass es mit diesen Einkäufen irgendeine besondere Bewandtnis hatte, wusste aber lange nicht weshalb. Es waren die Moslems mit ihren Bestellungen: „…zwei Mettwürstchen….“, und dabei der erhöhte Speichelfluss und das verlegene Grinsen…? „…zwei Mett…“ und glühende Augen. Etwas daran erinnerte mich an den Einkauf meines ersten Playboys. Peinlich aber wunderschön. Es dauerte, bis ich verstand, dass es um das für Muslime verbotene Schweinefleisch ging. Welch besonderen Reiz das Verbotene doch haben kann! Wie es uns glühend und leuchtend macht und ganzheitlich!?
Eines Tages tauchte in der Fabrik Aschraf auf, ein afghanischer Student, übrigens der erste Afghani im Werk. Er hatte sich für Akkordarbeit beworben und nahm das besorgniserregend ernst. Er schuftete! Schnell, kontrolliert und konzentriert – und ohne Pausen. Er arbeitete die halbe Stunde Pause oft durch. Kippte nur kurz einen Kaffee in sich hinein. Immer weiter und immer weiter. Er wollte es wirklich wissen, rechnete sich aus, in einem Monat sieben- oder acht tausend D-Mark verdienen zu können und ignorierte alle unsere Einwände und Warnungen. Also warteten wir schließlich achselzuckend, auch ein wenig neugierig, auf seine Gehaltstüte am Monatsende. Er würde enttäuscht werden, denn wenn jemand zu viel schaffte, wurde einfach „gekappt“. Das musste scheinbar jeder für sich neu erfahren. Er jedenfalls wollte es uns auch nicht glauben.
In der Fabrik gab es nur wenige deutsche Arbeiter. Die meisten Kollegen kamen aus Jugoslawien und der Türkei. Viele von ihnen wohnten in einer Containerstadt direkt hinter der Fabrik. Aschraf aber wohnte ganz nobel in einem Studentenwohnheim in Bonn. An mich hielt er sich anfangs wohl deshalb, weil ich ein echter Deutscher war und er von mir lernen konnte. Außerdem sah er mich zwischen der Arbeit in Büchern lesen. Er kam also ab und zu, wenn er Schmerzen hatte und es nicht mehr ging, zu mir herüber und wir redeten und wurden im Laufe der Zeit gute Freunde. Eines Tages sagte er dann auch ganz feierlich zu mir: „Hiermit erkläre ich dir meine Freundschaft! Möchtest auch du mein Freund sein?“ Und ich erwiderte etwas verlegen: „Ja“, (ohne Freundschaftsringe!) nicht ahnend, dass zu einer solchen afghanischen Freundschaft auch das Händchen halten gehört.
Kann sich meine hochverehrte Leserschaft – bei der ich leider jetzt gerade wohl eine gewisse Schadenfreude nicht ausschließen kann – vorstellen, wie ich händchenhaltend mit meinem afghanischen Freund durch die Fabrik flaniere? Und das ist wirklich so passiert!!
Ehrlich gesagt, kann ich es selber kaum mehr glauben, und es treibt mir heute noch die Schamröte ins Gesicht!
Aber es war nicht zu ändern. Ich hatte mich mit einem deutlichen „Ja“ zu meiner Neugier an fremden Kulturen und fremden Sitten bekannt, und dazu gehörte es jetzt, auch den nächsten Schritt zu gehen. – Solange ich nicht mit ihm ins Bett musste!
Eines Tages lud mich Ashraf, der schon mindestens fünfundzwanzig war, zu sich ins Studentenwohnheim ein, und dabei ging es ihm, glaube ich, hauptsächlich darum, mir seine riesige Landkarte von Afghanistan zu zeigen, ganz ohne Übertreibung über einen Meter hoch und zwei Meter breit. Gewaltig! Aber auf dieser Karte ging es nicht um Berge, Wüsten und Wälder, auch nicht um geologische Bodenschätze oder Ansiedlungen von Pferderassen in den verschiedenen Teilen des Landes, sondern um die Frauentypen der neun oder zehn wichtigsten Volksstämme. Man sah von den Frauen nur die Gesichter: sehr, sehr groß, edel, klar und die meisten lächelten schüchtern. Jede blickte anders und man erkannte deutlich unterschiedliche Charaktere. Die Wilde, die Fromme, die Schöne, die Schlaue, die Kesse, die Süße und so weiter. Aschraf erwartete von mir Überraschung, Bewunderung und Beifall und dafür brauchte ich mich auch wirklich nicht zu verstellen. Es war dies das erste Mal, dass ich mich in das Verhältnis von Muslimen zu Frauen etwas einfühlen durfte. Ashraf war unglaublich stolz auf diese Karte. Nationalstolz spielte eine Rolle, aber auch die kindliche Freude an wunderschönem Spielzeug.
So, jetzt aber schnell wieder zurück nach Kabul.
Ich bin immer noch in dem Viertel mit den Schulmädchen und den Nippesläden.
Auf der Suche nach einem handgearbeiteten Geldgürtel betrete ich ein Lederwarengeschäft, dringe vor in die Schatten des Ladens, vorbei an den Düften eines hohen Berges von Lederresten und von Pfefferminz. An den Wänden und auf einem langen Tisch liegen sehr verschiedene Taschen, Gürtel, Westen und Lederhüte, und mitten darin sitzt Radschan, eine Schere in der Hand – ein freundlicher, schüchterner, junger Mann. Kein Turban. Vielleicht ist er kein Moslem? Pechschwarze längere Haare, gepflegt lockig und auch Hemd und Hose haben etwas Leuchtendes, Glänzendes, vielleicht sogar ein wenig zu viel davon, etwas Kitschiges? Hinter ihm klebt ein riesiges Bollywood-Poster. Über eine ganze Wand schmachtet sich ein Bollywood-Liebespärchen an, beide die Lippen leicht geöffnet. Man sieht, dass sie singen. Sehr gewagt, wenn man weiß, wie intim Indern der Mund ist und hier sind zwei davon sichtbar und sogar leicht geöffnet. Im Hintergrund tanzen Gruppen von Frauen in gleichfarbigen Saris und Männer mit Besen in den Händen, die sie wie Mikrofone halten. Alle sprühen – vielleicht etwas aufgesetzt – vor Energie – aber für Bollywood durchaus normal. Man hört förmlich die Musik dieser Filmszene.
In Kabul haben sich viele Inder niedergelassen, und mehr oder weniger heimlich begeistern sich auch manche afghanischen Kids für deren Kinokultur. Gerade die Hindi-Filme sind im Moment wirklich „in“. Und die Muslime befinden sich ihrerseits gerade – unter dem Eindruck des Westens – in einer tiefen Identitätskrise und sind sich ihrer Traditionen augenblicklich gar nicht mehr so sicher.
Ich frage nach Geldgürteln, denn ich suche einen ganz harmlos aussehenden Ledergürtel, in dessen Innenseite ich Geldscheine verstecken kann. Radschan und ich verstehen uns sofort super gut und führen ein sehr ehrliches Gespräch. Das ist ein aufrichtiger und hilfsbereiter Kerl. Er zeigt mir seine Gürtel und auch seine bestickten Ledertaschen und bunt bestickten Westen – alles sehr fein und geschmackvoll! Ausgezeichnete Handarbeit! Und wir reden. Er beginnt über Liebe und Sehnsucht in Bollywood-Filmen zu schwärmen. Romantische Liebe mit Herz und – sehr wichtig – Schmerz, weit weg von der Begeisterung für Frauen wie für Wildpferde oder Haustiere. Wir schwärmen also und die Stimmung ist gut. Diese gute Energie breitet sich aus und bewirkt etwas Überraschendes. Der Lederresteberg beginnt sich nämlich zu bewegen. Der Haufen aus den verschiedensten Ecken und Streifen schüttelt sich und ein übergroßer, gütiger Männerkopf kommt zum Vorschein. Ich traue meinen Augen nicht. Dieser Kopf ist fast doppelt so groß wie ein normaler Kopf und darunter ist kaum noch Platz für einen kleinen Kinderkörper. In diesem Lederhaufen hat ein winziger, verkrüppelter Mann geschlafen! Er schaut mit seinen ausdruckstarken großen, schönen Augen liebevoll auf seinen Bruder Radschan und dann nicht ohne Sympathie auch zu mir hinüber.
Und als ob das nicht genug der Überraschungen wäre, tritt jetzt zudem auch noch eines der Schulmädchen in blauer Uniform zur Tür herein, vielleicht sechszehn Jahre alt. Sie betritt den Laden schüchtern aber zugleich entschlossen. Aus ihrer Tasche holt sie verschiedene Gegenstände aus Leder und es wird mir sofort klar, dass sie die Stickarbeiten für Radschan erledigt.
Radschan schmilzt förmlich vor Wonne und Wärme, als er sie sieht, denn er ist dem Mädchen ganz offensichtlich in tiefster Liebe zugetan. Und würde man es ihm nicht ansehen, dann wüsste man aber beim Anblick des kleinen Bruders, was da gerade geschieht. Denn der Zwerg schaut zwischen den beiden hin und her, und es widerspiegelt sich in seinem großen aufrichtigen Gesicht die starke Atmosphäre von Liebe und Herzschmerz. Er liebt die beiden und ergötzt sich in tiefer Mitfreude an deren Wonne und Glück. Für Momente bleibt die Zeit stehen.
Jetzt beginnen die beiden geschäftlich zu verhandeln. Es geht um Geld, Arbeit, Arbeitszeit und Qualität und natürlich um die Kundenwünsche.
Radschan will weniger bezahlen als vereinbart, wenn ich das richtig verstehe. Für einen Moment verdunkelt sich das Gesicht des wunderschönen Mädchens und die dichten schwarzen Augenbrauen ziehen sich etwas zusammen. Sie richtet sich deutlich wahrnehmbar auf, wird ernster und tritt noch entschlossener auf, absolut nicht bereit, von ihren Forderungen auch nur einen Millimeter abzuweichen. Wie gut ihr das steht! Diese Streitereien ums Geld erscheinen zusehends wie Neckereien. Aber sie behält ihre aufrechte Haltung und beweist Rückgrat! Dadurch wird die Stimmung weiter aufgeladen und noch erotischer. Es ist sehr heiß in dem Laden, aber trocken, so dass man nicht schwitzt, wenn man sich langsam – sinnlich – bewegt. Ich schaue zu dem Bollywood-Plakat hinüber und traue meinen Augen nicht: die Tänzerinnen und Tänzer im Hintergrund werden zusehends lebendiger, die Stars beginnen leise zu singen. Wohl gemerkt: Ich habe nichts geraucht! Aber die Tänzerinnen schieben ihre Köpfe hin und her, die Hüften schwingen, es wird synchron getanzt und gewirbelt, anmutig und voller übermütiger Lebensfreude.
Williglich und genüsslich lassen wir alle uns auf einen bunten Reigen von glühender Liebe, frohem Tanz, flatternden bunten Tüchern, Eimern, Besen und Laternen ein. Wir träumen und wir wünschen uns, dass dieser Traum nie enden möge. Oh, bliebe die Zeit doch endgültig stehen!
Doch schließlich flattert unsere Muse – unser aller Engel – in der verrückten britischen Uniform davon zum Ausgang hinaus ins Freie und in die Ferne ihres Arbeitszimmers.
Der Stimmungspegel sinkt langsam ab. Die Wirklichkeit holt uns ein. Wir sind erschöpft und traurig. Hoffnungslosigkeit steht im Raum. Das Bollywood-Poster besteht nur noch aus billigem, leblosem Papier. Flach, vergänglich und ohne Perspektive…
Sehr bald schon stolpere ich aus dem Laden, mit einem neuen Gürtel in der Tasche. Ich brauche etwas Raum und Zeit für mich, für mein eigenes, schon vor Jahren gebrochenes Herz, für Gedanken und Sehnsüchte. Gedanken über den Sinn… über die Welt… über Einsamkeit… über Zweisamkeit… Schmerz… und so weiter…
über Essentia und die Pflicht zu sein…
Ciao ciao
Euer Winni Quijote