4. -Himmel und Erde

Guten Morgen liebe Leute!

Eine weitere Szene aus Shambhala:

„Warum sind Blüten so prächtig? Haben Bienen denn Sinn für Schönheit?“ Ich sitze gerade im Unterricht für Europäische Geschichte und Kultur bei meinem Lehrer Aga Hiob. Da gehe ich zweimal die Woche hin. Wie immer bin ich über die Steine im Vorgarten der Villa gestolpert, habe beim Ersteigen der Wendeltreppe hoch zu meinem geliebten Meister meine Hände mit Wasser beträufelt, Wohlgeruch geopfert und dabei die Glut der Kohle gespürt, vor dem Blumengesteck einen Moment verweilt und bin dann in sein Zimmer gerannt und auf sein Podest geklettert. Wie so oft hat er nach der Schale mit den bunten Edelsteinen gegriffen und sie einfach vor uns ausgeschüttet, und jetzt sitzen wir hier, meine heute ungewöhnlich unkonzentrierte Puppe Käthe zur Linken. Was hat sie nur? Sie hat eine Laune, und die Frage nach der sinnlosen Pracht der Blüten stammt ursprünglich auch von ihr. Man könnte Käthe für naiv halten, aber interessanterweise öffnen ihre einfachen „dummen“ Fragen meistens ganz neue Perspektiven und Einsichten. So auch jetzt wieder: Herrn Hiob hat diese Frage jedenfalls überrascht und sehr nachdenklich gemacht. Er schweigt und richtet sich etwas auf, die Stirn in Falten.

Im Unterricht geht es seit Wochen um Spanien, und immer wieder tauchen dabei Don Quijote und Sancho Panza auf. Das ist ein riesiger Spaß.

In diesem Zusammenhang albern wir manchmal herum und äffen Leute nach. Dann vergisst auch Käthe alles andere.

Da gibt es zum Beispiel André, einen französischen Koch, der häufig am Hofe kocht, wenn wir Gäste haben. Herr Hiob kennt ihn auch. Und dieser kleine rundliche André, der redet kaum mit Wörtern, sondern er macht Geräusche: „Ohlala, ohlala, mon petite courageux ö ö Prinzessiiiin, was ´abe ich denn hier?“, und er zaubert ein Rosinenbrötchen hervor: „Hmmm, ai-jai-jai, et bon, très bon..“ Er scheint immer Rosinenbrötchen in Reichweite zu haben. Oder er singt: „Alors“, und zieht dann einen halben Atemzug lang ein: “eeehhh..“ hinterher. „Alors ehhhh … alors äähhhh“. Was er sagt macht inhaltlich wenig Sinn, aber es ist lustvoller Wortgesang und auf seine Art sogar besonders ausdrucksstark. Und es quillt alles tief aus seinem dicken Bauch. Ungebremst Lebensfroh.

Es begann, als wir über Sancho Panza sprachen, und Herr Hiob versuchte dessen Wesen zu beschreiben. Wild gestikulierend – wie er es so gerne tut – und dann sang er: „Ohlala, ohlala…“ in dem Tonfall von Andree, und ich stimmte ein und wir spielten lachend weiter mit: „Hmmm, bon bon, très bon, ohlala..“, und wir kugelten uns auf dem Podest herum und jetzt kann ich nicht mehr genug davon bekommen. Es ist herrrlich!

Seitdem machen wir es immer wieder, wenn die Rede auf Sancho Panza kommt. Wir führen uns auf wie Tiere. Wir schmatzen und schnalzen und gestikulieren mit erhobenen Zeigefingern und wir lachen. Vielleicht spucke ich sogar ein wenig dabei.

Es ist wundervoll, gemeinsam mit Aga Hiob so zu lachen! Er kichert und glugst mehr in sich hinein, als dass er schallend lachen würde, aber er strahlt dabei und sein ganzer Körper ist in Bewegung, außer den Beinen – korrigiert mich Käthe gerade – und das steckt an. Dieser alte Mann ist wirklich ganz ungewöhnlich lebendig und er hat es ‘raus, die Art dieses französischen Küchenchefs zu imitieren, dass man sich kaputtlachen kann. Und wir werden beide im Imitieren immer besser… ja –  ich glaube ich auch?

Vielleicht sollte ich Schauspielerin werden!? – Habe ich schon von meinem Phototermin neulich erzählt? –

Natürlich ist auch Käthe immer hingerissen und hebt ihrerseits den Zeigefinger mit: “Ohlala, ohlala…“ Sie hat aber weniger Talent als ich, weil sie so wahrhaftig ist und außerdem ein sehr dünnes Stimmchen hat.

Und dann gibt es den Don Qujote! Das „Don“ von Don Quijote bedeutet „Herr“, und so könnte ich Aga Hiob auch „Don Hiob“ nennen. Ich traue mich aber nicht es auszuprobieren? Auch was den Quijote betrifft, haben wir so ein Schauspiel: Wir setzen uns übertrieben gerade, steif und aufrecht hin und führen dann ganz langsam und nachdenklich unseren Zeigefinger lang gestreckt und spitz – vorsichtig und in einem großen Bogen weit ausholend – von vorne über die Nase zwischen die Augenbrauen und drücken – so wie der von Reventlow es macht – unsere imaginäre Brille zurecht. Der von Reventlow ist Aga Hiobs Sekretär und ein eigenartiger Edelmann, der dazu neigt, über die eigenen Beine zu stolpern, vor lauter Bedenken und Abwägungen. Wir spitzen bei diesem Theater zwar vornehm die Lippen und richten uns hoch auf, gebären uns aber ansonsten nicht besonders albern.

Die Welten des Quijote sind so ganz anders als die des Panza. Aber auch die auf ihre ruhigere Art enorm lebendig.

Herr Hiob sagt, dass man sich immer wieder aufs Neue entscheiden kann, eher ein Don Quijote oder ein Sancho Panza zu sein.

Und dann wird es kompliziert, denn auch in jedem Quijote steckt etwas Natur, also auch er muss wenigstens ab und zu etwas trinken, essen und genießen – und sei es nur bei einem angedeuteten Handkuss – und andererseits steckt in jedem Panza auch etwas Nachdenklichkeit, zum Beispiel beim Planen des Weges oder der Mittelbeschaffung, oder wenn es einfach darum geht eine saftige Wurst aus einem Darm zu schälen, so dass möglichst wenig des köstlichen Inhalts verloren geht. So lebt also in Don Quijote auch etwas Natur und in Sancho Panza etwas Geist.

Man könnte sagen Quijote strebt nach Ideellem und der Panza nach Sinnlichem.

Jetzt hagelt es draußen – man hört die Körner aufs Dach und den Balkon klopfen – und wir lauschen in Ruhe für eine lange Weile.

Und Herr Hiob sinniert noch immer über die Frage nach der Pracht der Blüten. Er bekommt darüber viel Weite – feine Portionen von Unendlichkeit –, und jetzt sagt er etwas; jetzt heißt es: aufpassen!

„Schau, meine pfiffige Prinzessin, Pracht und Schönheit haben immer mit Lebendigkeit zu tun. Es gibt sie weil es Leben gibt. Getriebene, geniale Maler oder Bildhauer versuchen, genau diese Lebendigkeit in ihren Kunstwerken einzufangen, genau darum geht es glaube ich der modernen Europäischen Kunst, und ich finde, dass es ab und zu sehr gut gelingt, aber achte darauf: es sind immer surreale Elemente im Spiel. Anders geht es nicht!

Die Darstellung dieser Lebendigkeit und damit Schönheit bedarf immer Elemente von Tod und Vergänglichkeit. Vielleicht bist du noch zu jung für dieses Thema, aber es ist wichtig, und du solltest wenigstens schon einmal davon gehört haben, denn immerhin bist du die Drachenprinzessin:

Schönheit berührt das Herz mit dem Mittel der Lebendigkeit. Sie braucht Bewegung, wie eine Säge Bewegung braucht, damit sie wirken kann.

Lebendigkeit aber bedarf der Gegenwart von Vergänglichkeit und Wandlung, denn ohne kann sie nicht existieren. Sie sind der Motor.

Dieser spanische Künstler Salvadore Dali, dessen Bilder ich dir neulich gezeigt habe, der stellt in die Nähe des bunten Schmetterlings immer eine Krücke oder ähnliches! Merke dir das! Wir studieren immerhin gerade Spanien!

Schmetterling und Krücke: Wundervolles ist Entstehen und Vergehen

Oder – weg von Spanien – denke nur an den Beschützer Mahakala, der Vergänglichkeit ist, düster und beängstigend, mit leuchtenden und flammenden Totenschädeln. Erinnere dich doch nur, welche Ausstrahlung und Bedeutung als Beschützer er hat, und wie befreiend er sein kann.“

– Dazu muss ich erklären, dass Aga Hiob natürlich bekannt ist, dass am Hofe täglich bei Sonnenuntergang unter anderen eine kurze Rezitation für den vierarmigen Beschützer Mahakala zelebriert wird, und dass es am Hofe Bilder von ihm gibt. Ganz bestimmt praktizieren die ihn in der Villa auch – wenigstens ab und an.

Der „große Schwarze“ ist Vergänglichkeit, stützt damit aber das Leben. Sonderbar!?

Herr Hiob macht eine lange nachdenkliche Pause. Darin ist er unschlagbar!

„Deshalb soll deine Aufgabe heute sein – bevor du die Treppe hinunter polterst und mit deinem verrückten Beschützer, dem Obi Van, und der Käthe nach Hause gehst –, hier oben am Treppenaufgang das Blumengesteck noch einmal tief zu kontemplieren.

Bitte mache mir die Freude!

Kontemplieren heißt, nicht nur mit dem Kopf zu betrachten und nachzudenken, sondern, Hals, Herz, Bauch und Schoß einzubeziehen und sich so gänzlich dem Lichte von Schönheit und Wandlung zu öffnen.“

Eine lange Pause…

„Aber denke nicht, du kommst mir ohne das Vorzeigen der Hausaufgaben davon: Also los jetzt an die Arbeit! Worüber haben wir das letzte Mal gesprochen? …“

– So ist der Hiob – Puh! Ein anstrengender Lehrer!

Käthe lehnt sich entspannt etwas zurück. Sie braucht ja nie Hausaufgaben vorzulegen, aber immerhin hilft sie mir oft bei den Vor- und Nachbereitungen.

Ich nehme eine Glasperle in die Hand und lege los….

Ciao ciao

Euer Winni Quijote