6.  Grauenhaftes Grau und weißes Licht

So – meine hochverehrte Leserschaft – jetzt geht’s ans Sterben.

Nachts, hoch im Himalaya im Kullu Valley, erhob ich mich im Fieberwahn von meinem Lager. Mit der Linken umklammerte ich meine Schultertasche mit meinem Geld und dem Pass und setzte ganz vorsichtig einen Schritt vor den anderen. Links lag auf einer Pritsche ein altes Weib – mindestens hundertjährig, und trotz der Dunkelheit sah ich, dass sie nur noch Haut und Knochen war, ein Gerippe mehr oder weniger, und sie atmete schwer. Ich ging einen Schritt weiter. Eigentlich war dort eine Wand, aber die Wand öffnete sich und ich wußte, jetzt geht’s in den Tod. Meine rechte Hand streckte ich zur Orientierung suchend aus – bereit etwas zu ertasten? Ich stand vor der Pforte des Todes, war schon irgendwie unter Schock, aber andererseits auch bemerkenswert gefasst. Zu meiner Linken röchelte weiter die müffelnde Luftknappheit. Aber es war auch irgendwie feierlich, so als würde eine Kirchenorgel spielen. Ein weiterer kleiner, vorsichtiger Schritt nach vorne.

Jetzt eröffnete sich eine endlos weite Höhle, ein endloser Gang, wie in einem Bergwerk, Kohle, Granit, und da war dieses unendliche milchige grauenhafte Grau. Ich strengte meine Augen an und versuchte genauer hinzuschauen, versuchte Schleier zu durchdringen und seufzte dabei ziemlich schwermütig und resigniert: „Ist der Tod wirklich derart unendlich grau?“ Wobei selbst mein Entsetzen über diese unendliche Gräue keineswegs aufgeregt oder verzweifelt war. Irgendwie blieb ich sogar sachlich, geradezu cool. Was blieb mir auch anderes übrig? Dennoch: Wie gelähmt stand ich vor dem Grau in Grau. Es war übrigens bitterkalt. Wiederholt dachte ich über das Wort „Grauenhaft“ nach. Ich starrte also in diesen Gang und dachte wieder und wieder: „Ist Tod wirklich so unerträglich grauenhaft grau? Das ist das grauste Grau, dass ich je erlebt habe.“ Und die Schwelle war direkt vor mir, keine zwanzig Zentimeter vor mir. Nur noch dieser eine winzige  Schritt und ich war drüben. Aber ich schaffte es einfach nicht, mich weiter zu bewegen. Nein! Ich drehte mich sogar um. Ich schleppte mich zurück in Richtung auf mein Lager. Aber diese Erfahrung von diesem bedingungslose Grau ließ mich – wie meine aufmerksamen Leserinnen sicher längst bemerkt haben – nicht mehr los? Ich erinnere mich bis heute – fünfzig Jahre später – öfter mal daran, und es ist immer wieder stählern, seelenlos und kalt.

Ich bin damals glücklicherweise nicht gestorben, sondern lediglich in meinem Fieberwahn auf dem Gipfel meiner Lungenentzündung herumgewandelt. Das alte Weib zu meiner Linken war gar kein altes Weib, sondern da schlief und atmete ein wohlgenährter, deutscher Student aus reichem Hause, der für ein paar Tage ein Blockhaus im Himalaya mit mir geteilt hatte. Er war Biologiestudent und Schlangenforscher. Tagsüber streifte er durch die Wälder und suchte Schlangen. Er ignorierte mich so gut es ging, denn er wollte sich nicht seine teure vierwöchige Forschungsreise – ein Flug nach Indien kostete damals noch richtig viel Geld – von einem sterbenden Hippie verderben lassen, den man pflegen und um den man sich kümmern musste. Dort oben im Kullu Valley, gar nicht weit weg gab es sogar eine ganz moderne Klinik die von Europäern geführt wurde – keine zehn Kilometer von mir -, und es wäre ein Leichtes gewesen, Hilfe zu holen, aber er hatte wohl einfach Angst, kostbare Zeit zu verlieren, so wie übrigens noch ein anderer deutscher Student, der Dritte in dieser Blockhütte, der tagsüber zu heißen Quellen pilgerte, um darin zu baden, zu entspannen, Energie zu tanken und zu genießen. Also so genau weiß ich eigentlich gar nicht, was der gemacht hat, aber auch er war tagsüber immer unterwegs. Vielleicht war er auch ein Kiffer, denn dort oben im Kullu Valley wächst das beste Canabis der Welt einfach so am Wegesrand. Beide ignorierte mich so gut sie konnten. Fairerweise muss ich allerdings sagen, dass sie mir manchmal abends Früchte und Wasser mitbrachten, soweit ich mich erinnern kann. Und ich hatte mich auf meiner Pilgertour so daran gewöhnt meine Probleme alleine zu bewältigen, dass ich möglicherweise gar nicht um Hilfe gebeten hatte sondern sie sogar ablehnte. Das kann durchaus sein? Ich war sehr eigen geworden und sonderlich.

Der Zwischenzustand des Sterbens: Tschikhai Bardo mit dem weißen Licht

Zurück zum Grau: In unserem Totenbuch steht nichts von Grau. Eher im Gegenteil erfährt man in den ersten Momenten nach dem Herzstillstand weißes Licht. Strahlendes Licht . Leichtigkeit sogar …? Da steht nichts von Grau. Und das Weiß ist sogar unerträglich und blendend, so krass sogar, dass die gerade Verstorbene es nicht aushalten kann und sich deshalb gequält versucht in eine Ohnmacht zu flüchten. Aber das wäre ein großer Fehler, eine unvorstellbar wertvolle, vertane Chance, zumindest aus Sicht des Friedens und der gütigen Weite.

Stellen wir uns einmal vor, dass wir auf einem Lager liegen und sterben. Wir warten etwas und dann plötzlich merken wir: wir sind jetzt Tod. Da ist kein Atmen mehr und kein Blutkreislauf findet mehr statt. Wir hatten es kommen sehen, und jetzt ist es passiert. Natürlich wussten wir unser Leben lang, dass es irgendwann einmal passieren würde, aber jetzt ist es wirklich passiert. Wir sind tot!

Diese nackte Erkenntnis, wirklich tot zu sein, muss für viele dann eben doch erschreckend, erschütternd und überwältigend sein. Vielleicht versuchen wir einen Arm zu bewegen. Es passiert aber nichts. Eine Art Zauberklänge sind ganz einfach nicht zu identifizieren oder zu beschreiben. Vielleicht vermissen wir die gewohnten Sinneseindrücke, das Gewicht unseres Körpers zum Beispiel. Wenn wir solche Vorstellungen nun weiterverfolgen, dann kommt allmählich Panik auf. Nicht gleich aber dann sogar intensiv. Wir würden uns gerne von dieser Panik überwältigen lassen, aber den Gefallen tut sie uns nicht. Vielleicht Entsetzten? Selbst wenn wir immer davon ausgegangen waren, dass wir ganz cool sterben würden: „Wie gelebt – so gestorben“. Diesen bescheidenen Spruch hatte mein Großvater sich für seine Todesanzeige gewünscht. Aber wenn wir diesem Tod dann nicht mehr ausweichen können und ihm ins Auge schauen müssen, sind wir dann wirklich so ruhig und bereit zum großen Abenteuer, so wie mein lustiger Opa es sich vorgestellt hatte? Unser ganzes Leben lang mussten wir Veränderungen und Überraschungen meistert, warum jetzt also nicht auch?

Sterben ist aber kein Fieberwahn, da muss kein gnadenloses Grau sein, dass es zu ertragen gilt. Wir begegnen ja einer völlig neuen Wirklichkeit, die wir noch nie erlebt haben, mit der wir keinerlei Erfahrung haben und auf die wir nicht vorbereitet sind. Vielleicht erwartet uns unerträgliches Entzücken in der Form von grellstem, strahlendsten, weißestem Licht? So könnte man zumindest die Aussagen im Totenbuch über die ersten Momente direkt nach dem Tod interpretieren.

Aber wie auch immer es werden mag, es ist im Moment nach dem Sterben sicherlich hilfreich, wenn man zu Lebzeiten Erfahrungen mit Panik und Panikattacken gemacht hat. Ich bin davon überzeugt, dass Panikattacken eine sehr gute Vorbereitung auf den Tod sind. Denn mit Panikattacken ist es ganz ähnlich wie mit dem Sterben. Ganz unangekündigt, aus heiterem Himmel überraschend – wie ein Blitz – beginnt so ein Anfall. Out of the blue? Jenseits von allem Vorstellbaren. Die erste Panikattacke seines Lebens ist sicher mit Abstand die unerträglichste und furchtbarste, weil solche intensive nackte Angst noch ganz neu für einen ist. Wo kommt sie her?  Man weiß noch nicht aus Erfahrung, dass auch die direkteste, nackteste Angst – totales Entsetzen – nach einer Weile abnimmt, nachlässt und sogar berechenbar wird. Beim ersten Mal weiß man das noch nicht, und deshalb hat das noch zusätzlich eine ganz besondere Qualität. Das Wissen, dass der unerträgliche Zustand von absoluter Panik nach einer Weile auch wieder vergeht, das ist dann von da an ein Strohhalm für jeden, der da zum zweiten Mal hindurch muss. Die eigentliche Panik ist allerdings immer wieder aufs Neue krass und entsetzlich, da möchte ich keine falschen Hoffnungen wecken. Auch bei der nächsten Panikattacke bleibt von uns erst einmal wieder nichts als reine entsetzliche Angst, aber der Unterschied ist eben, dass wir uns damit beruhigen können, dass es vorbei gehen wird. Und wir erinnern uns daran, was beim letzten Mal geholfen hatte. Wir atmen beispielsweise in eine Tüte um Hyperventilation zu vermeiden. Oder wir gehen ins Freie hinaus und meditieren. Oder wir strömen die entsprechenden Punkte im Jin Shin Jyutsu. Vielleicht haben wir sogar Medikamente im Haus – Psychopharmaka – die bei Panik helfen. Jeder hat da so seine Methoden und Strohhalme, aber jedes Mal ist es immer wieder wesentlich, die Panik anzunehmen, und zwar als das, was sie ist, und mit ihr zu leben und zu lernen mit ihr umzugehen. Als wär’s ein Teil von uns.

Wir sehen hier, dass es sehr hilfreich sein kann, etwas zumindest theoretisch schon durchlebt zu haben. Okay,  so eine Panik geht vorbei – während der Tod definitiv endgültig ist?

Nun könnten wir uns beim Sterben also – anstatt uns abzuwenden und nach Ablenkungen, Pillen, Meditation oder Jin Shin Jyutsu zu suchen – dieser Intensität in den ersten Momenten nach dem Eintritt des Todes, diesem blendenden grellen Licht ganz einfach hingeben. Das ist aber natürlich nicht einfach, und deshalb sollten wir das zu Lebzeiten möglichst irgendwie üben. Wir könnten uns ergeben, uns dem Todsein sogar zuwenden und uns auf ihn zu bewegen, und uns dann quasi darin auflösen und endgültig vergehen. Das hört sich doch gar nicht so schlimm an. Da klingt doch sogar Erleichterung mit.

Also, meine hochverehrten, aufmerksamen Leserinnen, das sind doch fast schon positive Aussichten? Aber wenn überhaupt, dann funktioniert das ganz sicher nicht, ohne entsprechende, passende Vorbereitungen. Wie beim Erlernen von Strategien für Panikattacken muss man sich auch auf das unermessliche, blendende, kompromisslose Licht, oder das weite, endlose, friedliche, weiße Licht, direkt nach dem Tod, vorbereiten. Und statt mit Tüten, Medikamente oder Yoga, kann man sich vielleicht sozusagen akklimatisieren, indem man immer wieder in diesem Totenbuch ließt? Wenn man täglich an Tod denkt, dann wird einem dieses Phänomen vertrauter. Man kann ein oder zwei tiefgründige Gebete oder Zaubersprüche verinnerlich. Ob das wohl wirklich möglich ist? Garantieren kann ich das natürlich nicht, denn ich kann mich selber leider an keinen früheren Tod mehr erinnern.

Aber andererseits bin ich doch einigermaßen sicher, dass es ganz hilfreich für die Nachtoderfahrungen (Bardos auf Tibetisch) sein kann, sich mit Panikattacken auszukennen, denn da gibt es viele Parallelen. Das Problem ist nur, dass die meisten Strategien bei solchen Attacken der Ablenkung dienen und der Vermeidung des Entsetzens, und etwas Vergleichbares ist wahrscheinlich in den ersten Phasen direkt nach dem Tod ganz einfach nicht möglich! Man zumindest kann man lernen mit Angst umzugehen. Das kann man üben und mentale Strategien entwickeln. Besonders das von Angst Lähmende und Versteinernde kann man lernen, loszulassen. Für die nächste Panikattacke kann man sich ein Moskitonetz bereitlegen, damit man es schnell zur Hand hat, wenn man nachts bei einer Attacke ins Freie will?

Sich aber offen auf die ersten Nachtoderfahrungen einzulassen – und da gibt es ja wahrscheinlich keine Auswege, Moskitonetze oder sonstigen Tricksereien –, sich also dieser möglicherweise reinen Intensität der Wirklichkeit – des Nicht-Seins – weit und vorbehaltlos zu öffnen – also eben nicht auszuweichen -, sogar ohne jede Strategie oder Hintergedanken – das ist schon sehr speziell, das ist etwas anderes. Bitte beachtet diesen Unterschied! Also Strategien, um Intensität zu mildern helfen beim Sterben wahrscheinlich eben gerade gar nicht! Das Tibetische Totenbuch ist in diesem Punkt jedenfalls sehr direkt und unmissverständlich!

Wie kommt also das Tibetische Totenbuch als Hilfsmittel ins Spiel? Und hier wird das Lesen dieses Textes nicht einfach nur eine Beschäftigung für die, die trauernd an einem Totenlager stehen.

Nein – dieses Totenbuch ist ein Yoga. Das ist ein Yoga Buch und zwar geht es um den Yoga im Zwischen – im Ausnahmezustand (Bardo) Wir können die Grundlagen der Meditation erlernen, die dann ein paar Jahre lang üben und immer weiter vertiefen, und dann können wir uns auch ganz konkret mit dem Phänomen Bardo in der Meditation beschäftigen. Tiefe Meditation an sich ist ein solches Bardo. Im Grunde begegnet jeder, der meditiert diesem Phänomen, der Leerheit zwischen zwei Momenten nämlich.

Der zweite Zwischenzustand – Tschönyi Bardo

Dem Totenbuch zu Folge vergeht die erste Phase nach dem Tod, in der man tatsächlich sogar vollständige Befreiung erlangen könnte – also die Phase des weißen Lichts – recht schnell, und es folgt Verwirrung, Taumeln und Ohnmacht. Das war es dann wohl mit der ganz großen Chance, und von jetzt ab geht es also eher um Schadensbegrenzung.

Wir befinden wir uns jetzt in Phase zwei:

Hier kommen jetzt also tatsächlich Hilfsmittel ins Spiel, also beinah sogar Nachtodmoskitonetze, Nachtodstrategien und -techniken. Hier, in Phase zwei, hilft es jetzt ganz sicher, wenn man sich auf den Tod vorbereitet hatte, und das Totenbuch viele Male studiert, auch ohne Meisterschaft in der Meditation erlangt zu haben.

Das Totenbuch ist also auch ein Text für die Lebenden, über den Sinn und das Sein, und zusätzlich dann auch ein Text zur Vorbereitung auf den Tod, und zum Hören in den ersten sieben Wochen nach dem Tod. Ein Übungsbuch und eine Reisebeschreibung. Eine Art Landkarte Ein Wegweiser.

Mir ist es bei Gebeten und Messen schon viele Male so gegangen, dass sie sich mir erst nach Jahren oder gar Jahrzehnten– und meistens überraschend und unerwartet plötzlich – ganz neu erschließen. Mir wird dann bewußt, dass ich die Bedeutung bisher nie wirklich verstanden hatte. Besonders häufig passiert das, wenn ich ein Gebet wochenlang nicht rezitiert habe, und es wieder hervorhole, und dann sehe ich es ganz frisch, und es macht viel mehr Sinn als je zuvor. Damit meine ich nicht, dass es immer eine Weile dauert bis man sich in eine Messe eingelebt hat, die man regelmäßig zelebriert. Solche Eingewöhnungsphasen gibt es natürlich auch immer, aber da ist eben noch eine andere, magische Art des Vertiefens. Es braucht immer etwas Zeit, sich zurecht zu finden, und sich dann für rituelle Details zu öffnen. Das aber meine ich hier nicht. Es gibt da noch eine ganz andere Art von Erwachen und Verinnerlichen für Bilder und Inhalte. Nicht nur mir erschließen sich  plötzlich und überraschen altbekannte Texte und Zusammenhänge und das Thema scheint sich gewechselt zu haben und es geht jetzt um ganz etwas Anderes. Überraschend ergeben sich diese neuen Zugänge, unerklärlich und ohne einen Grund dafür benennen zu können.

Meine hochverehrten Leserinnen mögen es mir nicht übelnehmen, wenn ich mich an dieser Stelle wiederhole und zurückblicke:

Im ersten Bardo  – also in der ersten Nachtodphase, dem Tschikhai Bardo – erstrahlt „weißes, strahlendes Licht“, das ist „ursprünglicher Reinheit“. Wenn wir nicht vorbereitet sind, dann schwanken wir und wollen uns abwenden oder ablenken. Hier ist Raum für Zufriedenheit, Sanftheit, Entzücken – Ekstase – aber eben auch für entsetzliche Panik, obwohl das weiße Licht eigentlich Frieden, Gutheit und Weite und sogar Ewigkeit beziehungsweise Zeitlosigkeit ist. Ursprüngliche Gutheit mag sanft an und sogar einladend klingen. Können wir aber damit umgehen, wenn wir uns selber als einen Haufen Dreck wahrnehmen? Sprechen wir ruhig von psychischem Dreck, von treibenden und wütenden Emotionen, von Schuld oder auch einfach Scheißemotionen, und eben auch von geheimen, hinterhältigen Motivationen, die wir jahrelang eingeübt haben und die uns bewegen und treiben. Oder haben wir eingeübt uns immer zu verstecken und wegzuducken? Und das ist ja auch immer gut gegangen. Aber hier ist jetzt nackte, unausweischliche Wahrheit.

Ich frage also noch einmal: Sind wir wirklich vorbereitet? Und, wie könnten diese Vorbereitungen denn konkret aussehen? Hilft Erfahrung mit LSD? Sollte man einmal im Jahr auf einen LSD-Trip gehen? Diese Vermutung war bei uns Hippies in den Siebzigern weit verbreitet. Professor Timmothy Leary hatte uns darauf gebracht, als er noch angesehen war und in Würden stand. Und ich gehe tatsächlich davon aus, dass das in gewisser, sozusagen sehr indirekter Weise tatsächlich hilfreich sein kann. Aber heutzutage (anders als in den Sechzigern) ist der Besitz von LSD strafbar. Dieser Weg ist also verbaut und übrigens auch nicht ganz ungefährlich?

Ich bin davon überzeugt, dass mir das ganz einfache Herumschleppen des Totenbuchs um die halbe Welt – obwohl ich den Inhalt damals kaum verstand – auch eine kleine Vorbereitung auf meinen nun ja doch unvermeidlich näher rückenden Tod war. Also, ich spreche von dem sozusagen physischen Kontakt und die damit häufige Erinnerung an die Grundgedanken des Buches.

Es ist ganz sicher zum Zeitpunkt des Todes – aber auch jetzt in unserem Alltag – eine Hilfe, regelmäßig ein paar Zeilen im Totenbuch zu lesen und sie zu kontemplieren. Zeile für Zeile gelesen steckt dieses Buch nämlich voller Überraschungen. Erst unvorhersehbar, erschließt es sich dann im Laufe der Zeit mehr und mehr und es ergibt sich ein Gesamtbild.

Und dann könnten wir regelmäßig etwas System in die Vorbereitungen auf unser Sterben bringen:

Körper-Rede-Geist bieten sich da zum Beispiel als Raster zur Orientierung an.

Wie können wir uns also auf der Ebene von Körper – also Form, Gestalt, Materialien – vorbereiten? Die Antwort heißt: Stil, Würde und Wertschätzung für die Dinge, Wesen und Gegenstände, die uns umgeben, zu kultivieren.

Mit Stil und Würde wachsen wir nämlich hinein in die magische Welt und machen uns damit vertraut. Das ist an dieser Stelle ein Geheimtip von mir!

Ich begleite Klatschpressejournalistinnen immer gerne in die Villen und Schlösser der Reichen, Berühmten, Schönen und Adligen. Natürlich haben diese Leute hervorragende, teure Designerinnen, die Raum um Raum ihrer Paläste einrichten und gestalten und sich sogar um die Haustiere kümmern. Und natürlich wird alles aufgeräumt, geputzt und gestriegelt bevor die Journalistinnen mit den Photographinnen kommen. Man erkennt aber immer schnell, wo Zauber und Atmosphäre tiefgründig und echt gewachsen sind, und wo Schönheit und Eleganz nur künstlich aufgesetzt wurden.

Kurz gesagt: Das Geheimnis heißt hier „entschleunigen“.  Zeit verstreichen lassen. Lange Weilen verstreichen lassen.

Ein Schloss, dass einige hundert Jahre alt ist, hat einen Zauber, sogar wenn die Designerin ganz schlecht ist und keinen Sinn für Königliches und Adeliges hat und noch nie mit einem echten Torero geschlafen hat.

Auf der Vorbereitungsebene von Körper können wir also damit beginnen, auf die Einrichtungen, Möbel und Details in den Räumen um uns herum zu achten. Wir können immer wieder innehalten, durchatmen, und uns noch einmal umschauen. Brummen, Schnüffeln, Luft Tasten und Seufzen. Und so weiter. Dabei Zeit verstreichen lassen – immer wieder lange Weilen zu lassen. Im Laufe der Zeit wird das sehr wohltuend, ja sogar beglückend! Man kann das wirklich erlernen. Die aufmerksame Leserin wird mir sicherlich darin zustimmen, dass so auch gleich noch Haltung, Körperspannung, Rückgrat und damit eben auch Würde angeregt werden.

Und dann kommt unser persönlicher Stil dazu. Wie tragen wir unser Haar, wie kleiden wir uns? Wie gehen wir mit unseren Krankheiten und Behinderungen um? Ebenfalls ein weites Feld, um Würde auf der Ebene von Körper zu vertiefen.

Manchmal treibt uns der Alltag so gnadenlos, dass es fast so ist, als müsse man versuchen, einen Schnellzug aufzuhalten. Wenn wir nicht lernen, dagegen zu halten, immer wieder still zu stehen und innezuhalten, dann kann man sich doch leicht vorstellen, dass auch die Reise nach dem Tod eine irre Achterbahnsause wird. Und übrigens ist es nie zu früh mit der Kultivierung von Würde zu beginnen, denn je länger das Leben dauert, um so häufiger findet man sich sowieso in einer solchen selbst kreierten Achterbahn, die aber zusehends klappriger wird. Sobald man das merkt, kann man die Notbremse ziehen. Aber das tut jedes Mal mehr weh! Muss aber leider immer wieder sein! Es reicht nicht aus, dies einmal in seinem Leben zu schaffen, und dann sagt man sich: Ich weiß jetzt, wie das geht. Das reicht einfach nicht aus!! Wir vergessen und verdrängen schnell wieder.

Es muss natürlich nicht unbedingt immer gleich ein Tapetenwechsel sein, aber ab und zu voll in die Bremsen gehen, das sollte sein!

Auf der Ebene von Rede–(Sprache, Kommunikation, Energie und Symbole), ist es ähnlich, denn auch hier geht es um Innehalten. Nur die Mittel sind ganz andere. Hier helfen die Wege von Thai chi, Jin Shin Jyutsu, Yoga, Pranayama, Dichtung, Sprachen, Musik, Rhythmus und Gestaltung. Ganz wichtig an dieser Stelle, und unser Hauptthema nicht aus dem Auge verlierend: Man kann aus dem Totenbuch laut vorlesen oder rezitieren oder singen. Es hat immer etwas Feierliches, wenn man ein paar Zeilen oder Strophen laut liest, auch wenn man ganz alleine ist? Jedes Mal, wenn wir das tun, wachsen wir etwas über unseren Alltag hinaus. Wir können ein paar Sätze laut lesen und darüber nachdenken. Und übrigens: nein – auch wenn jemand nach meinem Tod an meinem Lager sitzt und mir dann aus dem Tibetischen Totenbuch das „weiße, strahlende Licht“ beschreibt, ist das dann kaum eine Hilfe, wenn das für mich völlig neu ist und ich davon vorher noch nie gehört hatte. Das kann nicht funktionieren. Für die Verstorbene ist das Blödsinn. Es könnte aber natürlich andererseits für die Zurückgebliebenen und Zuhörer sehr segensreich und eine große Hilfe sein.

Ich respektiere natürlich, was Leute zur Bewältigung ihrer Trauer am Totenlager der Verstorbenen tun. Wir sollten in solchen Situationen aber sehr behutsam vorgehen, und unter Umständen auch kurzfristig entscheiden können, auf Gewohntes zu verzichten. Natürlich kommt es dabei immer darauf an, in welchem Geist die Trauernden beten und lesen. Hier gehört unbedingt auch eine gehörige Portion Zynismus hin! Sorry! Gar nicht willkommen oder hilfreich sind allzu große Verzweiflung und dramatisches Theater. Versteht ihr, was ich meine? Da könnten Festklammern und Panik der gerade Verstorbenen sogar verstärkt werden und über Verzweiflung zu weiterer Verdunkelung führen, so wie ja auch unerledigte Geschäfte und Probleme eine Verstorbene möglicherweise nach dem Tod noch fürchterlich quälen können.

Auf der Ebene von Geist kann man auch sehr viel hier und jetzt vorbereiten:

  • Nun – offensichtlich ist eine gute Vorbereitung immer Sorge zu tragen, dass keine unerledigten Geschäfte und Probleme irgendwo vor sich hin schimmeln. Frei nach dem Motto: da kümmere ich mich später drum?
  • Ich kann es selber kaum glauben, dass ich das empfehle, aber ohne Zweifel wären gerade aus dieser Erkenntnis heraus, dass wir gerne Familienkonflikte etc. für später zur Seite schieben, eine sehr gute Vorbereitung regelmäßige Gespräche mit Therapeutinnen oder guten Freundinnen zu führen – professionell sozusagen.
  • Natürlich gehört dazu, das Tibetische Totenbuch immer wieder einmal zu lesen. Möglichst laut. Ich empfehle der deutschen Leserin Das Totenbuch der Tibeter, in der Übersetzung von Francesca Fremantle und Chögyam Trungpa.
  • Du kannst es übrigens so machen, wie ich auf meiner Pilgerreise, und das Buch ganz einfach immer in der Handtasche mitnehmen und es herumtragen, sogar ohne darin zu lesen.
  • Friedhöfe sind wie Tempel und Kirchen tolle Orte zum Meditieren und Kontemplieren.
  • Und das ist jetzt sehr wichtig: Erlerne zu meditieren und tue das dann auch täglich mindestens zwanzig Minuten lang. Natürlich ist es noch besser mindestens einmal im Jahr, zehn Tage lang achtzehn bis zwanzig Stunden am Tag schweigend zu meditieren. Es gibt Klöster und Meditationszentren, die so etwas regelmäßig anbieten. Suche im Internet unter dhamma.org. Vipassana
  • Nimm dir Zeit täglich Yoga zu üben. Hatha Yoga und Prananyama.
  • Lege dein Handy täglich für eine Stunde zur Seite und schalte alle Medienverbindungen in dieser Zeit auch ganz aus.
  • Im zweiten Text dieser Sammlung werden drei ganz einfache Übungen beschrieben, die sogar supergute Hilfsmittel auf dem Weg zum Sterben sind.
  • Natürlich kann man auch damit beginnen, Gedichte oder Texte zum Thema zu verfassen. Wenn man sich die Zeit nimmt, über ein bestimmtes Thema zu schreiben und zu erzählen, fällt einem nach einer Weile Vieles ein. Und es ist auch etwa so, wie in einen Spiegel zu schauen.

Übrigens, falls es meinen aufmerksamen Leserinnen aufgefallen ist, dass ich zwischen dem Tibetanischen Totenbuch und dem Tibetischen Totenbuch unterscheide, folgt hier die Erklärung dafür. Wenn ich über das Tibetische Totenbuch schreibe, dann meine ich das allgemein, während ich Tibetanisches Totenbuch nur die Ausgabe mit den vierhundert Kommentaren von Lama Govinda nenne.

Veröffentlicht von

Winfried Kopps

Winfried Kopps wurde 1951 im Rheinland geboren. Er kam schon sehr früh mit existentialistischer Literatur in Berührung. Die ersten Autoren waren Frisch, Eich, Huysmans, Nietzsche, Sartre und Camus, aber insbesondere wurde er von Hermann Hesse, Rudolf Steiner und LSD erzogen und beeinflußt. Mit 16 las er einen Text über Buddhismus und fühlte sich sofort tief verbunden. Mit 20 verdingte er sich als Fabrikarbeiter und verdiente genug Geld um eine 15-monatige Pilgerreise, Morgenlandfahrt, nach Asien finanzieren zu können. Darauf folgte eine zweijährige Einsiedelei in Spanien. In New Dehli las er die ersten Zeilen von Chögyam Trungpa Rinpoche und erkannte in ihm seinen Guru. Neben dem Studium und der Praxis des Buddhismus und der Shambhala Lehren unter der Leitung von Chögyam Trungpa Rinpoche und Sakyong Mipham Rinpoche, erforscht er weiterhin begeistert viele verschieden religiöse Traditionen. Er ist Vater von zwei erwachsenen Söhnen und verdient sein Geld als Unternehmensberater.