KARMA VII

Theismus

Man kann zwischen theistische Religionen und nicht-theistische Religionen beziehungsweise Weltanschauungen unterscheiden. Zu den nicht-theistisch Religionen zählen die meisten buddhistischen, daoistischen und konfuzianischen Traditionen, mir fallen da gerade weiter keine ein, aber da gibt es sicher noch einige nicht-theistische Traditionen mehr im Universum.

Theistische Religionen sind Religionen mit einem ganz bestimmten, festen Weltbild beziehungsweise Dogma. Es geht also bei den Theisten darum, „das Richtige“ zu lernen und zu verstehen und dieses „Richtige“ hat etwas Endgültiges und Stabiles. Da gibt es zum Beispiel das Christentum mit dem Vatergott, dem heiligen Geist und dem Sohn Christus. Auch Atheisten sind meistens total theistisch in ihrem Atheismus, also deren Dogma ist dann halt: Es gibt keinen Gott oder Göttinnen oder Engel oder sonstigen Blödsinn. Dann gibt es da den Islam mit Allah, dem Teufel und den sehr detaillierten Geboten des Koran. Theisten wollen richtig und falsch möglichst genau unterscheiden.  Das heutzutage vielleicht am weitesten verbreitete theistische Weltbild (ich neige dazu es „Glauben“ zu nennen) ist das sogenannte wissenschaftliche Weltbild.

Nun sind zwar viele Wissenschaftsphilosophen heutzutage gar nicht theistisch, aber das wissen die Wissenschaftskonsumenten und -anwender und die gestandenen Wissenschaftler selber nicht, und das ist ihnen auch zu unpraktisch, egal und wird ganz einfach als bedeutungslose philosophische Spinnereien abgetan. Sogar gelehrte Chemikerinnen, Biologinnen, Ärztinnen oder Dr. Dr. der Physik belächeln die Wissenschaftsphilosophien, sind sich aber andererseits sicher zu wissen, worum es im Leben geht und wie Alles zusammen hängt.

Vereinfacht kann man sagen: Theismus ist, wenn man an etwas Bestimmtes glaubt –  eine Weltsicht  überzeugt und kompromisslos vertritt – oder auch eine andere Wahrheit als die eigene, vehement ablehnt, beziehungsweise es einem unmöglich ist, sich auf eine andere Weltsicht ein zu lassen. Theisten glauben daran, dass es eine feste und richtige Sicht der Dinge und Welten und Universen gibt. Es gibt für sie ein ganz bestimmtes Dogma.

Viele Göttinnen und Götter sind eifersüchtig. Auch die Wissenschaft verhält sich häufig wie eine eifersüchtige Göttin, die keine andere Sicht neben sich ertragen kann. Und in ihrem Eifer und der Freude über ihre Erfolge hat die Wissenschaft sehr viele Mauern errichtet und Türen verrammelt, die später nur noch schwer überhaupt wahrzunehmen sind. Unabsichtlich werden immer weitere Zugänge zur magischen Welt geschlossen und verrammelt. Allerding öffnen sich glücklicherweise ganz von selbst immer wieder neue und überraschende Schlupflöcher und Zugänge zur Magischen Welt.

Nicht theistisch ist, wenn man offen bleibt und anstatt zu ergreifen und fixieren in der Lage bleibt zu sagen: „Ich weiß nicht“ oder „Ich bin mir nicht sicher“ oder auch einfach „vielleicht“ oder „möglicherweise“. Es ist sogar so, dass man in nicht-theistischen Traditionen das „Ich weiß nicht“ richtiggehend trainiert und zwar in jahrzehntelangen Trainings ausdehnt. Zen Buddhismus ist gerade darin super klasse! Man geht dann davon aus, dass Einsicht etwas Veränderliches ist und es keine richtige, eine bestimmte Einsicht gibt und der Pfad der Erkenntnis kein Ende  und kein Ergebnis hat. Keine Bestätigung. Man bleibt immer weiter offen für Veränderungen der Weltsicht. Selbst zu glauben, dass es Einsicht an sich gibt, also das Phänomen „Einsicht“ ist für gewöhnlich sogar schon theistisch.

Natürlich besteht die Gefahr auch Nicht-Theismus in Stein zu meißeln, und dann hat man wieder einen neuen Theismus nämlich den Nicht-Theismus geschaffen. Das ist aber eher schwierig und hält wahrscheinlich nie lange durch.

Erst einmal scheint Theismus ganz leicht verständlich: Wir wissen, dass Christen, Juden und Moslems an einen Gott glauben. Für sie ist das „es gibt nur einen“ sehr wichtig. Da wird dann eine einzelne absolute Instanz suggeriert. Aber viele hinduistische Traditionen – mit mehr oder weniger Göttinnen –  sind auch oft sehr theistisch, und es gibt sogar viele Buddhistinnen, Daoistinnen und Konfuzius Anhängerinnen, die sehr theistisch denken und leben.

Ich hatte einmal bei einer Konferenz mit der prominentesten buddhistischen Nonne von Sri Lanka zu tun, und die war so theistisch, dass es mir fast die Sprache verschlagen hat. Die glaubte, sie wüsste ganz genau wie die Welt funktioniert, wie Karma funktioniert, und wie alles zusammenhängt. Sie dachte, dass sie als OberOberNonne alles erklären können müsste. Aber innerlich war sie starr. Ich hatte sie später sogar als Moderator in einer Podiumsdiskussion zum Thema „Kriege in der Welt“ sitzen. Es war entsetzlich! Ich habe sie damals sogar richtig wütend gemacht mit meinen ungläubigen Blicken, Sprachlosigkeit und mit meiner „Ignoranz“. (Wahrscheinlich habe ich mir damit damals mein eigenes Karma total ruiniert, denn es gibt aus buddhistischer Sicht fast nichts Schlimmeres als Ordinierten zu widersprechen beziehungsweise sie nicht ernst zu nehmen? Also zumindest aus folkloristisch buddhistischer Sicht habe ich meinem Karma damit sehr geschadet.)

Zum Beispiel der Glaube daran, dass es so etwas wie Karma gibt, kann sehr theistisch vertreten werden. Viele Leute outen sich erst als Theisten – also sie merken das selber erst – wenn sie anderen Karma oder Gott oder auch wissenschaftliche Zusammenhänge erklären. Sie wissen sozusagen selber gar nicht, dass sie eigentlich sehr theistisch denken, also einem Glauben verhaftet sind, bis sie in ihrer Begeisterung zum Beispiel Karma zu erklären, selber erst bemerken, dass sie Karma nicht nur erklären und selber einigermaßen verstehen, sonder wirklich unumstößlich daran glauben und sie glauben, dass sie diesen Glauben sogar verteidigen müssten. Widersprüche und Rückfragen verhärten die theistische Haltung oft und Angst hat auch ihre Finger im Spiel. Je tiefer man nach theistischen Haltungen in sich selber sucht, um so geschickter tarnen sie sich.

Ich will nicht besserwisserisch oder sektiererisch erscheinen, bin aber eigentlich davon überzeugt, dass man ohne regelmäßige Meditation – jetzt kommt also mein Dogma –  die Haltung des „Nicht-Wissens“ nicht wirklich  kultivieren kann. Das geht nicht. Dazu bedarf es der Meditation zumindest in der ein oder anderen Form. Ich sag´  das jetzt einfach ´ mal so. Aber theistische Grundtendenzen sind ganz tief in uns vergraben, komplex und schwer zu befreien. Deshalb ist es tatsächlich auch so ein Glück, einen persönlichen Guru zu haben, denn der kann uns unsere verborgenen Tendenzen spiegeln und dann öffnen wir uns viel schneller und tiefgreifender. Aber ich möchte nicht verheimlichen, dass sich unser Ego nur unter extremen Schmerzen verflüchtigt, auch mit dem gütigsten und fröhlichsten Guru. Ich möchte aber auch nicht verheimlichen, dass es auch Ausnahmen gibt, dass manchmal auch Menschen mit einer tief nicht-theistischen Grundhaltung geboren werden und dann auch ihr Leben lang nie wirklich steif  theistisch zu denken und zu fühlen beginnen. Das gibt es auch, aber das ist ein anderes Thema, das führte an dieser Stelle zu weit. (Das wollen wir schnell wieder vergessen.)

Der verbreitetste Glaube ist heutzutage wahrscheinlich das wissenschaftliche Weltbild, denn damit haben wir täglich zu tun, und da findet jeder von uns täglich haufenweise Bestätigungen. Jedes Mal wenn unser Handy klingelt zum Beispiel. Das ist so, weil die Produkte und Entwicklungen der Wissenschaften so super wirksam sind. Denken wir nur einmal an die Atombombe oder die elektrische Zahnbürste?

Ich möchte einmal an Beispiel aufzeigen, wie Weltbilder sich neu fixieren, also allmählich theistischer werden:

Hinter der Mauer der DDR – in dieser Isolation, in dieser Geborgenheit,   wurde den Kindern – also Ossis die nach 1960 geboren wurden – ein wissenschaftliches Weltbild vermittelt, dass Religionen zwar nicht ablehnte aber doch zur Torheit erklärte. Religion  wurde gönnerhaft und frei als Unfug für die Alten und Senilen geduldet und wohl auch als Heilmittel für psychisch Labile. Ab Kinderkrippen wurde aber im Allgemeinen  ein wissenschaftliches, aufgeklärtes Weltbild vermittelt und damit eine neue Generation der Aufgeklärten und Schlauen gezüchtet. Im Zusammenhang mit dieser modernen, aufgeklärten Weltsicht wurden viele Tabus in Frage gestellt und neu bewertet. Das war wirklich toll! Zum Beispiel, das Tabu, dass Nacktheit unanständig sei? Warum sollte man am Meer im Urlaub lächerliche Höschen und westliche Bikinis tragen? Das war doch Quatsch und altmodisch. Herrlich! Man durfte selber entscheiden, wann man nackt sein wollten, und auch mit wem man Sex haben wollte, wann die Beziehung keinen Sinn mehr machte und so weiter. Das Kollektiv war wichtiger als die Zweierbeziehung, etc. etc. Und sogar auch: Warum sollte man nicht zu einem Gott oder Göttern beten? Nun, diese Götter gibt es nicht, warum also zu ihnen beten? In Kirchen zu einem Gott zu beten, den es aus wissenschaftlicher Sicht gar nicht geben konnte, das war zwar Blödsinn, aber es tat niemandem weh, also sagte sich die DDR Führung: „Warum nicht, wenn sie Spaß daran haben und es nichts kostet, und vielleicht hat es ja tatsächlich eine heilende Wirkung, aber natürlich darf so ein Unsinn nicht an Schulen unterrichtet werden“. Kinder müssen vor diesem Unsinn geschützt werden. Ja, im Schulunterricht selber ging man dann schon etwas weiter, und verteufelte Religionen hier und da auch mal, und beschrieb es als Machtmittel der Eliten und Reichen. Man wollte ja mit Tabus aufräumen. Und der Volksfeind war eher das egoistische Streben nach Eigentum, Verherrlichung oder Macht und individueller Bedeutung, denn das sah man ja, dass gerade das Jahrtausende lang zu Unglück, Elend und zu Kriegen geführt hatte. Warum sollte man es nach Jahrtausenden nicht einfach einmal besser machen. Eine erleuchtete Gesellschaft entstehen lassen?Diese Haltung hatte also das Selbstbewusstsein und Selbstverständnis der Leute gestärkt. Als wirklich erleuchtete Gesellschaft galt eine Gesellschaft, deren Regeln die Wissenschaft – das wissenschaftliche, vernünftige Weltbild – bestimmte. Und das machte die DDR- Bürgerinnen auch erst einmal frei und glücklich. Keine Spinnereien mehr, sondern Wissenschaft und gesunder Menschenverstand. Und das lief eigentlich erst einmal auch sehr gut und andere Religionen wurde von den jungen Leuten auch gar nicht vermisst. Natürlich gab es religiöse Jugendweihen, Jahressendefeiern und eine Hymne und einen strahlenden Führer, aber das alles im Gewand der Vernunft und des ärmlichen, grauen Anzugs.

Aber jede Religion – und so auch die Religion Wissenschaft selber, die ja von sich denkt, gar keine Religion zu sein – hat einen Teufel. Ohne Feindbild, ohne Negatives geht es nicht! Jedes theistische Weltbild braucht eine Teufelin. Fehler sind Bestätigungen dafür, dass es überhaupt etwas gibt. Daran kann man sich orientieren, reiben und festhalten.

Was war nun aber der Teufel in der neuen schönen, klugen und heilen DDR-Welt? Der Klassenfeind? Der Kapitalismus? Esoterik? Der Westen? Meckerei über die Mauer? Als Hüter des gesellschaftlichen Friedens  wurde dann die Stasi erfunden, die Teufelaustreiberinnen in einer bewusst nicht-kapitalistischen Deutschen Demokratischen Republik. Die Exorzistinnen! Und natürlich erschuf man gleichzeitig damit neue Sünden. Schade! Damit war dann aber der Traum von einer erleuchteten Gesellschaft in der DDR auch ausgeträumt. Von da an ging es bergab. Ich war selber nicht dabei und musste mir das jetzt so zusammenreimen. Immer wenn ich über die DDR nachdenke, fällt mir sofort der unglaublich weise Bertold Brecht ein, von dem ich von Schulzeiten an soviel gelernt hatte und der da lieb bis an sein Lebensende in dieser DDR gesessen hat, scheinbar im festen Glauben, dass nur so Alles gut würde?

Bei den Gelegenheiten bei denen ich mit meinem Guru – Chögyam Trungpa Rinpoche – persönlich studiert habe – zum Beispiel drei Monate lang 1983 – gehörte zu fast jedem Satz den er sagte „möglicherweise“ oder „vielleicht“. Er hat damals nie etwas behauptet, sondern er hat uns Ideen und Zusammenhänge gezeigt, aber immer mit einem Fragezeichen? Also waren wir bei jedem Satz selber gezwungen uns zu fragen: „verstehe ich das selber auch so?“ So kann man Theismus Steinchen für Steinchen abbauen und offener werden. Möglichst viele „vielleicht“ oder „möglicherweise“. Diese Offenheit kann man sich angewöhnen und verinnerlichen und zulassen, aber für dieses Öffnen gibt es kein Ende, kein Erreichen und kein Nicht-Erreichen und doch ist es ein Weg zur Befreiung. Die Herausgeber von Trungpa Rinpoches Büchern, haben die vielen Vielleichs und Möglicherweise natürlich alle weg-editiert.

Oder ich habe einige Wochen lang bei Mary Burmeister persönlich Jin Shin Jyutsu studiert, und Mary sagte wirklich fast jeden zweiten Satz: „Don´ t value“ Bewerte nicht, „You need not value!“ Man braucht nicht zu bewerten. Auch das hatten damals die Simultanübersetzerinnen auch nie mit übersetzt. Dabei war das gerade da sogar ganz besonders wichtig.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Theosophische Gesellschaft. Da versuchte zum Beispiel die Urmutter der Theosophischen Gesellschaft – Madam Blavatsky – die Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten zwischen den Religionen zu lösen, indem sie erklärte: Alle Religionen gehen eigentlich von derselben Göttlichkeit aus und geben ihr nur verschiedene Namen. Der Urgott der Theosophen ist zwar ein transzendenter Gott, also nicht naiv zu begreifen, aber eigentlich beziehen sich alle Religionen auf diese gleiche Göttlichkeit. In Persien gibt es die  Bahai, die sind da eigentlich den Ur-Theosophinnen sehr ähnlich. Ich hatte als Buddhist häufig mit modernen Theosophinnen und Bahai zu tun, und denen war der Buddhismus immer besonders suspekt und noch unheimlicher als Hinduismus, und zwar konnten sie mit dem Buddhismus nichts anfangen, weil kein Gott – nicht ein Gott aber auch nicht viele Götter – und keine höchste Instanz gepredigt wurden, und überhaupt Nichts verteidigt wurde.  Ich habe mehrmals gehört, dass Bahai gesagt haben – wenn wir Buddhisten dabei waren – „mit Buddhismus beschäftigen wir uns dann später einmal“. Denn für diese scheinbar so besonders toleranten Leute, gehörte zu jeder Religion ein Gott, Götter, Göttinnen oder ein fester Glaube. Das erscheint vielleicht aus heutiger Sicht ziemlich kindisch, aber vor hundert Jahren, war das Weltverständnis der Menschen noch nicht derart global wie heutzutage, und da waren Theosophie und Bahai überwältigend tolerant?

Offensichtlich geht es immer wieder darum sich wieder und wieder frisch locker zu machen und selbst die tiefsten Erkenntnisse los zu lassen. Alles kann im Wandel bleiben. Das ist eigentlich ganz einfach, aber wenn es eng wird, dann vergessen wir das sehr schnell. Denn Weite und Offenheit können immer wieder beängstigend werden. Aber sich in eine magische Welt einzuleben, das sind viele Prozesse von Öffnen, Loslassen und Erwärmen.

Wenn du dir zu diesem Thema einen Merksatz merken möchtest, einen Schlüssel zur Magischen Weltsicht dann merke dir:

Eigentlich braucht es keine Bestätigungen.

Euer Winfried der Quijote

Veröffentlicht von

Winfried Kopps

Winfried Kopps wurde 1951 im Rheinland geboren. Er kam schon sehr früh mit existentialistischer Literatur in Berührung. Die ersten Autoren waren Frisch, Eich, Huysmans, Nietzsche, Sartre und Camus, aber insbesondere wurde er von Hermann Hesse, Rudolf Steiner und LSD erzogen und beeinflußt. Mit 16 las er einen Text über Buddhismus und fühlte sich sofort tief verbunden. Mit 20 verdingte er sich als Fabrikarbeiter und verdiente genug Geld um eine 15-monatige Pilgerreise, Morgenlandfahrt, nach Asien finanzieren zu können. Darauf folgte eine zweijährige Einsiedelei in Spanien. In New Dehli las er die ersten Zeilen von Chögyam Trungpa Rinpoche und erkannte in ihm seinen Guru. Neben dem Studium und der Praxis des Buddhismus und der Shambhala Lehren unter der Leitung von Chögyam Trungpa Rinpoche und Sakyong Mipham Rinpoche, erforscht er weiterhin begeistert viele verschieden religiöse Traditionen. Er ist Vater von zwei erwachsenen Söhnen und verdient sein Geld als Unternehmensberater.