Guten Morgen, liebe Leute!
Ich stelle mir vor, ich liege bei meiner Kosmetikerin Marion – die bekanntlich bei der Arbeit gerne aus ihrem Leben erzählt – auf der Anrichte. Und Marion erzählt:
„Also, wenn überhaupt, dann fand Erziehung bei uns früher – ich gehöre ja noch zur der Generation mit kriegstraumatisierten Eltern – nur in den Schulen statt. Aber auch da nur, wenn man Glück hatte, denn es gab auch unter den Lehrern und Lehrerinnen viele in sich verwirrte und eingeigelte Kommunikationszombies.
Ich hatte Glück! Ich wurde eine Zeit lang von einer aufrichtigen und tiefgründigen Erzieherinnen des Herzen in Deutsch unterrichtet. Sie war auch die eigentliche Inspiration dafür, Germanistik zu studieren. Sie betete Simone Weil an. In den Sechzigern verband man mit der Weil eigentlich nur noch ihren Kampf dafür, dass man durchaus eine engagierte christliche Mystikerin sein konnte, ohne einer Kirche anzugehören. Das hatte sie so vielseitig und transparent klar gemacht – und natürlich nicht nur sie -, dass das inzwischen jedermann aufgegangen war. Toll! Aber inzwischen haftete der Erwähnung der Weil deshalb der Geschmack vom Schlagen eines toten Pferdes an. Doch diese immer mädchenhafte Philosophin, die einfach nie erwachsen werden wollte, steht ja für so viel mehr. Zu ihren Lebzeiten hatte sie den berühmtesten Denkern, Politikern und Erzählern Europas Ängste eingejagt! Aber trotz der großen Aufmerksamkeiten, Anerkennung und Aufregung die sie viele Jahre lang verursacht hatte, geriet sie nach ihrem Tod sehr schnell in Vergessenheit.
Die Erkenntnisse zum Christinsein interessierten meine Lehrerin nur wenig. Für sie war die Weil das frühreife Mädchen, das mit einer Tragetüte voller Baguettes hastig und mit Herzklopfen mitten über die Champs-Élysées radelte, weil sie auf dem Weg zum Bäcker noch einen Umweg zur Bibliothek gemacht hatte und sich nun mühen musste, noch rechtzeitig nach Hause zu kommen. So zeichnete sie sie, und das war eine von diesen farbigen, mehrdimensionalen Geschichten, die im Gedächtnis bleiben und an einem arbeiten, obwohl niemand sagen kann, ob das überhaupt je so passiert ist. Aber Lehrerinnen brauchen nicht von Ereignissen zu erzählen, die wirklich vorgekommen sind, sondern zeitlose auch durchaus absurde Geschichten, die nachwirken und fruchtbar sind.
Genau so etwas war zufällig auch bei den Jungs damals gerade Thema. Die hatten den Doktor Faustus von Thomas Mann entdeckt. Der ging von Hand zu Hand, und in diesem Roman gibt es einen Lehrer und Erzieher, der dem überintelligenten Protagonisten der Erzählung klar unterlegen ist, aber der seinen Schützling dennoch unterrichten kann, nämlich genau so, über fruchtbare, hintergründige Geschichten. Und ich spreche hier nicht von Gleichnissen, denn Gleichnisse haben einen Zweck und eine Aussage, so wie das geniale Gleichnis vom verlorenen Sohn. Nein, es geht um Lehrgeschichten, und die kommen, oberflächlich betrachtet, völlig sinnlos und surreal daher.“
Marion hält inne und wirft irgendetwas in eine Metallschale. Es klappert wie beim Zahnarzt und hört sich nach einem Skalpell oder Steinchen an. Ich werde ein wenig unruhig, aber sie fährt in ihren Erinnerungen fort, und ich hoffe nur, das Erzählen lenkt sie nicht zu sehr von der weiteren Entfaltung meiner Schönheit ab:
„ Diese Lehrerin war selber auch unglaublich wissbegierig. Sie schlug oft mitten im Unterricht etwas im Brockhaus nach, der in unserem Klassenzimmer im Regal stand. Sie erreichte uns Mädchen und berührte uns und übertrug ganz ruhig und allmählich ihre Inspiration.“
Marion richtet sich auf und hält einen Moment inne. Sie seufzt. Dann geht es weiter:
„Das war Abenteuer und wunderschön…! Oft saßen wir alle gemeinsam da, schauten sie aus weit geöffneten Augen an und verloren uns in Unendlichkeit – vergaßen uns selbst für Momente.
Oh, wie sehr ich das vermisse! Ich möchte wieder mit dem jüdischen Wirbelwind durch Paris sausen!
Ich erinnere mich kaum noch an spezielle Zitate – wobei – das mit der hübschen Frau die in den Spiegel schaut und denkt, sie sehe sich selbst, während die hässliche Frau, die in den Spiegel schaut, weiß, dass das, was sie sieht nicht sie selbst ist, das habe ich natürlich nicht vergessen.“
Wieder schraubt Marion an ihren Geräten herum und ist für Momente abwesend. Dann sagt sie einfach so in die Stille:
„Glaubt er, ich denk´ an seine Fidel, wenn der Geist über mich kommt?!“, und lacht.“ Das ist von Beethoven. Einer der Geiger hatte ihm vorgeworfen, sein Violineinkonzert sei unspielbar.“
Marion kichert wieder fröhlich und wirkt etwas abwesend.
„Im Zen-Buddhismus pflegt man ja auch diese Übung, den Praktizierenden durch kurze, surreale Geschichten – Koans – zu erziehen. Beziehungsweise, Täuschungen damit zu durchdringen. Also „surreal“ im Sinne von ganz besonders extra real. Über diese Übungen sollte man eigentlich auch nicht laut reden. Und ich riskiere jetzt und hier gerade Kopf und Kragen, indem ich mich darüber auslasse. Leute, die mit Koans arbeiten, sind extrem empfindlich! Sie hassen es, wenn man öffentlich einfach so damit herumspielt, darüber redet und philosophiert. Der Autor der berühmtesten Koan Sammlung war sogar so erbost darüber, dass er alle Kopien seiner ersten Sammlung von hundert Koans, dem Hekiganroku – Biyan Lu auf Chinesisch – öffentlich verbrennen ließ. Diese Zen Meister neigen zu Extremen und können bitter böse werden und so empfindlich sein, wie frisch gehäutet! Ein Glück, dass einige Mönche ihre Kopien damals unter Lebensgefahr versteckt hatten, und diese Sammlung bis heute vollständig erhalten ist, und inzwischen in viele Sprachen übersetzt wurde. Fast jeder kennt ein paar Zeilen daraus, wie zum Beispiel: „Was ist der tiefste Sinn der Heiligen Wahrheit?“, worauf Bodhidharma antwortet: „Unendlich weit und leer, nichts von Heilig“, beziehungsweise „Offene Weite, nichts von Heilig“, so wie Gundert es ins Deutsche übersetzte. Uhhhh, wenn man so bei der Arbeit einfach über diese Koans redet, da können Vertreter des Zen schon einmal richtig ausflippen. Denn die Beziehungen zwischen Koan und Schülerin beziehungsweise Schüler sind äußerst intim! Aber wir sind ja unter uns.“
Jetzt fummelt Marion wieder konzentriert an meiner Gesichtsmaske herum. Etwas bedarf ihrer vollen Konzentration, kein Wunder bei meinem alten, faltigen Etwas.
„ Also, Folgendes verrate ich jetzt nur Ihnen: Ich lese zu machen Zeiten wochenlang jeden Tag ein Koan aus den drei Sammlungen, die ich besitze, und dazu immer gleich auch die klassischen Kommentare und dann noch die Kommentare zu den Kommentaren von Gundert, oder von Yamada Koun Roshi, und das ist herrlich! Für Momente macht mein Leben Sinn!
Es tut mir gut, darüber zu reden, fast wie eine Beichte so gut…
Ich genieße diese Studien so wie die Meditation, und es ist wundervoll und unvergleichlich!
Aber wie gesagt: Vorsicht! Denn es ist Blasphemie! Aber wenn es doch so herrlich ist…! Kann denn Liebe Sünde sein? …
Diese Bilder begleiten mich dann den ganzen Tag und leben mit mir, und es wachsen lebendige Beziehungen. Ich spüre den Sinn und reise über jenseitige Inhalte immer wieder zurück ins Hier, vom Mulitdimensionalen zurück ins Nulldimensionale.
Da begegnet man zum Beispiel ´….Schnee auf einem kleinen silbernen Tablett…´
Ja und…? –
Aber lassen Sie sich einfach einmal von Schnee auf einem silbernen Tablettchen begleiten! Sie gehen zur Arbeit, und das saubere silberne Tablett, mit dem Schnee, der einfach nicht weniger wird und nicht schmilzt, begleitet sie.
Im Sommer! In der Mittagspause verändert der Schnee auf dem Silber sein Aussehen, wird kristalliner und kräftiger. So wird es ein magisches Spiel!
Okay: ein verbotenes Spiel – aber deshalb nicht weniger reizvoll.
Ich schiebe das Tablettchen mit dem Schnee vorne in meinen Bauchnabel, gebe einen kleinen Schubs, und flutsch… – kommt er hinten am Rücken wieder heraus. Steigt dann langsam auf, über den Hinterkopf nach vorne, vor die Stirn, und dann sinken Silber und Schnee wieder ab bis runter zum Schoß. Und ein kleiner Schubs und wieder flutscht es hinten heraus. Und so weiter. Langsam, Runde um Runde.
Diese Koans sind von überwältigender Schönheit und Eleganz. Und auch die um so Vieles nüchterneren Koans des Mumonkan – „Schranke ohne Tor“ – sind scharf wie frisch geschliffene Katanas.“ Sie reizen nicht zum Spielen. Die sind mehr für Erwachsene – also nichts für Simone Weil, denn die wollte nie erwachsen werden.“
Ich musse mich aufsetzen, damit Marion von der Seite besser an mich heran kommt. Ich glaube ich atme schwer und streiche mir kurz über den Bauch. Oft weiß ich nicht genau, was sie mit mir macht, genau so wenig wie, was ich mache, aber ich möchte es nicht missen.
Jetzt plappert sie wieder:
„Also ich gehe so und das Silbertablett schwebt in Schulterhöhe, und darauf immer noch ultrafrischer Schnee, und ich begegne einer Freundin aus Shambhala – einer Ärztin – und die sagt ganz beschwingt und aus einer sommerlichen Laune heraus: „Es ist ein wunderschöner Tag. Dieser Tag blüht!“ Und ich erwidere lachend: „Wir wollen hoffen, dass der Schnee nicht schmilzt“ und wir verbinden uns lachend in Wonne und Wohlgefallen.
Das kann doch nicht Sünde sein!?
Wir gehen weiter und drehen uns beide nach ein paar Schritten noch einmal um und winken uns glücklich zu.
So , mein Lieber, ich bin fertig! Sie sind fertig! Wie neu und immer jünger!“
Habe ich eigentlich schon bezahlt? Es ist Zeit zu gehen. Ich erhebe mich etwas hastig, bücke mich, um unter etwas hindurch zu kommen – Marions Atelier ist in einem sehr verspielten, kleinen Altbaudachstuhl untergebracht und man muss achtgeben, nirgendwo dran zu kommen und nichts umzureißen – Ich räuspere mich, denn ich bin ja sehr lange nicht zu Wort gekommen, und meine: „Wann darf ich wiederkommen?“ und vergewissere mich dabei, dass meine Füße festen Boden unter sich haben..
Ciao ciao
Euer Winni Gantenbein