7. Laute, Rhythmen, Zauberklänge

Ich gehe jetzt davon aus, dass meine hochverehrte Leserschaft inzwischen ordentlich vorgeglüht hat? Da liegt hoffentlich bei euch allen inzwischen irgendwo irgendeine Übersetzung des Tibetischen Totenbuchs herum oder zumindest steckt eines im Regal? Die Räumlichkeiten wurden in aller Ruhe auf ihre magischen Qualitäten hin neu ausgewogen und gestaltet. Elfen und Trolle fühlen sich willkommen, Blutsauger, Dämoninnen und Raserei sind unter Kontrolle. Vielleicht flattern im Garten inzwischen schon ein paar tibetische Gebetsfahnen, umtanzt von ausgelassenen Dakinis. Und dann gilt täglich erhöhte Aufmerksamkeit der Körperpflege und -gestaltung. Täglich Yoga und eine weitsichtige Ernährung im Einklang mit der Umwelt und der ortsspezifischen Natur. Da kommt Freude auf und Lebensqualität.
Wir sind also weitergekommen. Wir haben uns der Pforte des Sterbens etwas geöffnet. Einmal hinein gespingst und ein bisschen herumfantasiert. Erstaunlicherweise sind wir alle dabei ruhiger und cooler geworden, uns nähergekommen und eben nicht etwa ängstlicher und unehrlicher mit uns selbst. Wegen einer Steuerprüfung werden wir nicht mehr gleich hysterisch. Wir können doch eh nichts mitnehmen. Nach der Flutkatastrophe oder in Zeiten der Dürre nehmen wir uns in die Arme, stampfen fest mit dem Fuß auf dem Boden auf und beginnen mit dem Aufräumen und Saubermachen. Ein Unfall der Kinder? Schritt für Schritt tut man das Beste, was man in der Situation machen kann, möglichst – wenn vielleicht auch nicht immer –, ohne in Panik zu verfallen? Manchmal sterben Kinder sogar vor ihren Eltern, denken wir nur an all´ die jungen Soldaten zur Zeit, in den diversen Kriegen. Das ist so ziemlich das Schrecklichste, was wir uns vorstellen können, aber das gibt es wirklich. Und da ist er also dann doch wieder: der Schrecken des Sterbens? Das grausliche Gesicht des Sensenmanns, dem ab und zu eben auch einmal ein Kaninchen in die Schneide rutscht.

Nun begegnen wir dem Sterben und dem Tod nicht alle in derselben Weise. Wir zum Beispiel lesen das Tibetische Totenbuch und stellen entsprechende Betrachtungen und Vergleiche an. Im Grunde handelt es sich beim Totenbuch aber um einen Yoga-Text: Der Yoga mit Anweisungen zum würdevollen Sterbens mit allen seinen unterschiedlichen Aspekten, und außerdem sogar ein zauberhafter Yoga zur Erlangung von Erleuchtung, der Einswerdung mit Grundlegender Gutheit.
Wir Menschen unterscheiden uns aber deutlich voneinander, jedes Individuum ist anders. Deswegen gibt es auch nicht die eine bestimmte Art der Nachtod-Erfahrungen und somit auch nicht das eine, beste Rezept. Ich könnte natürlich immer anstatt von Nachtod von den Bardos schreiben, aber mir erscheint das irgendwie kosmetisch – tibetische Kosmetik – und wir können nicht davon ausgehen, dass die Nachtodspiegel kulturell dominiert sind, oder?
Im Laufe eines Lebens verhärtet sich ein Bewusstsein. Es bekommt bestimmte Prägungen, Tricks, Finessen und Orientierungen, und das sogar in erheblichem Maße. Dieser Werdegang läuft individuell je nach Veranlagungen, körperlichen Voraussetzungen und auch Körperbau sehr unterschiedlich ab.

Da ist zum Beispiel der Vajra-Typ oder das Vajra-Bewusstsein. Vajra, ursprünglich der Donnerkeil der Hindu-Gottheit Indra, war eine Stachelscheibe zum Schleudern, die sich so wie ein Bumerang verhielt, und mit einem einzigen Wurf bis zu einhundert Feinde vernichten konnte. Wir kennen so einen Vajra nur geschlossen, etwa wie zwei Fäuste, die an den Handrücken miteinander verbunden sind, und dann erinnert er mehr an eine Keule und wird auch gerne Donnerkeil genannt. Im tödlichen Einsatz öffnen sich diese Fäuste aber, und es treten zwei Reihen tödlicher Stacheln hervor.
Es passt zum Zeitgeist, mit dem Vajra-Bewusstsein zu beginnen, denn zurzeit ist das Universum sehr vajra-dominiert. Zumindest die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts wird vorerst sehr vajra-geprägt bleiben.
Ein Vajra-Bewusstsein tritt also in den Tod ein. Vajra-Menschen, das sind die besonders Intelligenten, Schlauen und Erfinderischen. Präzision und Nutzbarmachung, Unterwerfung und Perfektion. Scharf. Rasend schnell, geschliffen und poliert.
Das ist alles aggressiv, sogar offensichtlich extrem aggressiv, obwohl es sich vielleicht für eine Vajra-Person selbst gar nicht so anfühlt. Alle Vajra-Menschen kennen Ausbrüche von Zorn und Gewalt. Ohne Ausnahme! Oft total wütend und ungerecht und der Vajra-Typ wundert sich selber darüber. Vajra-Menschen formen und biegen, verbessern und klären und müssen ständig Entscheidungen treffen. Sie sind tough! Aber sie sind eben auch besonders schlau und pfiffig. Und es finden sich diese Superintelligenten nicht nur in der Wissenschaft, in Physik, Forschung, Handwerk, Wirtschaft, Medizin und den Welten der künstlichen Intelligenz. Denn auch unter genialen Musikerinnen, Philosophinnen, Malerinnen, Dichterinnen und Yoginis finden sich oft solche Vajra-Wesen. Hochbegabte sind meistens Vajra-Typen. Selbst wissen sie gar nicht, dass sie sich in einer Art mentaler Raserei befinden, das bemerken und darunter leiden eher die Umstehenden. Aber ich versuche die wesentlichen Aspekte der einzelnen Typen möglichst deutlich auszumalen. Die Vajra-Typen analysieren und differenzieren – übrigens – und das ist das Problem – mit fest verschweißten Scheuklappen und eben in Supergeschwindigkeit.
Als religiöse oder spirituelle Adepten haben Vajra-Typen es besonders schwer. Es gibt sehr viele Lebensbeschreibungen von hochintelligenten Schülern religiöser Meister, bei denen immer extreme und zerstörerische Mittel nötig waren, um sie von sich selbst zu befreien. Und andererseits gab es bekannte Religionsgründer – also sozusagen: Vajra-Religionsgründer – sogar mit riesigen Schülerschaften weltweit und Fantasien über Supramental und so weiter, die selbst im Diesseits nie befreit worden sind. Wir wollen hoffen, dass sie nicht wirklich in ihrem Super-Supramental gelandet sind, denn es dauert Ewigkeiten, den Weg da wieder herauszufinden, und es ist reiner Schmerz. Überraschenderweise haben solche Meister oft wirklich erdige, ehrliche, aufrichtige und weise Schülerinnen. Ich nenne keine Namen …
Es ist wohl klar, dass es für ein Vajra-Bewusstsein besonders hart ist, zum Zeitpunkt des Todes – nach den ersten superklaren Nachtod-Momenten – innehalten zu müssen. Für Vajra-Menschen ist das, als wären sie mit voller Wucht an eine Betonwand geknallt. Krach – Peng!! Der Stand der Klarheit zum Zeitpunkt des Todes – „Ich bin jetzt tot“ – steht da so überraschend wie ein Superjet, der Mitten im Flug von Riesenhand knallhart gestoppt wird und unter wahnsinnigen Schmerzen zersplittert. Es ist nicht etwa so, dass Supermann den Flieger einfach Mitten im Flug sanft zum Stillstand bringt. Aus den Splittern und der Feuersbrunst springen Erinnerungen und Fantasien hervor, werden immer deutlicher, schärfer und detaillierter und wechseln dann schnell immer wieder, und das tut furchtbar weh. Ja, da quillt Vergangenes auf und schäumt und glüht und schwillt!
Winzige Geschosse aus Präzisionswaffen – hundert gleichzeitig – schlagen in die wunderschönen, knabenhaften Köpfe jugendlicher Soldaten in geschniegelten und gestriegelten Uniformen ein. Und diese unschuldigen Köpfe zerplatzen in Fontänen von Blut, Hirn und Stahlsplittern. Errungenschaften der Wissenschaften? Tapfere Soldatinnen und Geheimagentinnen explodieren in Feuersbrünsten und ihre superkleinen Minisuperwaffen, verglühen, verweißglühen und ergießen sich über ihre zertrümmerten und brennenden Hände und Körper.
In seiner anerzogenen und präzisierten Raserei sieht das ausgebremste Vajra-Bewusstsein, wie monströse, unwirkliche, furchterregende, multiköpfige, blutsaugende, raubtierartige Dämoninnen mit super scharfen Klingen Schlangen und Krokodile im Gefolge sezieren und dreckige, unsterile Flüssigkeiten und Fladen von Matsch überall herausquellen. Fladen, Schäume und fiebrige, ansteckende Säfte und so weiter und so fort.
Ich vermute die hochverehrte Leserin hat inzwischen einen Eindruck davon, wie sich das für so einen Vajra-Geist entwickelt? Ich fürchte auch, dass sich diese Wahnvorstellungen ewig und unüberwindlich anfühlen. Ewige, intensive Aggressionen aufgrund von superkompetenten und schnellen Unterscheidungsfähigkeiten. Okay – wollen wir hoffen – bitte-bitte – dass es diesem Vajra-Geist dann irgendwann gelingt, zu scherzen – „Ganz schön bunt hier …!“ – und sich zu distanzieren und möglicherweise sogar aufzuwachen und dann vielleicht sogar ewigen Frieden zu finden? Aber bei aller Güte und allem Wohlwollen: ein Vajra-Bewusstsein hat es beim Sterben leider besonders schwer. Hier sollte also zu Lebzeiten schon möglichst viel zur Vorbereitung auf den Tod geschehen! Vajra-Typen sollten zu Lebzeiten unbedingt versuchen, ihren Guru zu finden! Denn ohne Guru ist es für sie unmöglich, den eigenen Wahn zu durchschauen. Dafür ist alles ganz einfach zu eng.
Aber für Buddhistinnen, unter denen zurzeit sogar besonders viele Vajra-Geister sind, gibt es natürlich immer einen Superlichtblick. In diesem Fall ist es der blaue Meditationsbuddha Akshobhya in sexueller Vereinigung mit seiner weiblichen Seite, Buddhalochana. Hoffentlich ergreift das Vajra-Bewusstsein die Chance und erkennt seine eigene sanfte und verletzliche Seite.
Okay, aber wie funktioniert das? Wie muss ich mir das vorstellen?
Also: Dhyani-Buddhas (Dhyani ist Sanskrit und bedeutet Meditation) sind so wirklich und existent, wie es die jeweiligen Umstände erfordern. (Übrigens, zwischen Tür und Angel: es bestimmen immer die Begrenzungen, also die Ecken und Kanten der Umstände, wie die Dinge laufen und nie das Mark.) Wie wir schon verstanden haben, hat ein Bewusstsein im Laufe des Lebens bestimmte Prägungen bekommen, und je länger es damit lebt, um so härter und undurchdringlicher werden sie. In unserer Beschreibung des ersten Typs geht es um das Vajra-Bewusstsein. Und der passende Meditationsbuddha – also die große Chance, die übrigens jedem auf die ein oder andere Art in den Bardos begegnet (das müsst ihr mir jetzt einfach glauben) – ist im Vajra-Bewusstsein Buddha Akshobhya – der Unerschütterliche – mit seiner Gefährtin Buddhalochana, was Sehkraft und Licht bedeutet.
Die besondere Weisheit auf der Vajra-Ebene ist die spiegelgleiche Weisheit. Das ist witzig, denn unsere Superintelligenten Vajra-Typen kämpfen ständig gegen das Unperfekte, Unfertige und Ungenaue, und müssen nun erkennen, dass all ihre Objekte nicht wirklicher sind als das, was wir in Spiegeln sehen. Spiegelbilder und nicht mehr. Nicht vorhanden, aber gestochen scharf! Diese Spiegelbilder sind aber nicht davon beeinflusst, was wir sehen wollen! Wir müssen jetzt Umstände erkennen, die wir nie wissen wollten.Das kann befreiend auf ein zorniges Vajra-Bewusstsein wirken: die Erkenntnis, dass alle Erkenntnisse, Erfindungen, Welten und Wirklichkeiten so leer wie die Bilder in einem Spiegel sind. (Allgemein sollte ich an dieser Stelle vielleicht erklären, dass die weiblichen Gefährtinnen aller Meditationsbuddhas immer sehr stark mitfühlende und verführerische Aspekte verkörpern.). Aber ein Spiegel gibt keine Bestätigung, keine Anerkennung und keinen Erfolg. Nüchterne und kalte Leerheit. Mit dieser Einsicht offenbart sich dem Vajra-Bewusstsein dann unter Umständen ein Weg zur Befreiung, und diese Wahrheit vom Spiegelbild, die vermittelt Akshobhya in Einheit mit Buddhalochana. Ehrlich gesagt, die beiden sitzen einfach sexuell vereint da und strahlen lichterloh – ein anhaltender orgiastischer Urknall?
Puh … – Erleichterung ist also möglich! Das scheint mir eine der frohen Botschaften zu sein, die vom Tibetischen Totenbuch ausgehen. Kann der Tod also tatsächlich sogar ein Weg zur Befreiung von Wahn, Gier und Angst sein? Natürlich könnte ein Vajra-Typ sich auch zu Lebzeiten schon mit Akshobhya, mit der spiegelgleichen Weisheit und mit der sanften Schönheit und Wonne von Lochana, der inneren Herrlichkeit und dem Leuchten, vertraut machen. Bitte, liebe Leute! Setzt euch hier und jetzt einmal gerade auf und lasst das einfach einmal zu! Das bringt wirklich was! Haltet Inne! Stellt euch Akshobya in Vereinigung mit seiner Lochana bildlich vor.
Ich möchte die Dinge nicht noch komplizierter machen. Aber es ist für einen Vajra-Typ oft hilfreicher, sich in der Vorbereitung auf den Tod eben nicht nur mit Vajra-Qualitäten – so wie Akshobhya und Buddhalochana – zu verbinden, sondern sogar ausdrücklich nach ganz anderen Wegen zu suchen. Aber gerade ein Vajra-Bewusstsein neigt dazu, zu verdrängen, und da tut natürlich ein völlig fremder Blickwinkel immer gut.
Sorry! Das klingt kompliziert, aber am Ende dieser Ausführungen werdet ihr das hoffentlich besser verstehen. Lasst euch Zeit damit.
Auch einem Vajra-Bewusstsein, steht natürlich der Zugang zum Weg der Liebe, des Mitgefühls oder der liebevollen Freundlichkeit weit offen, nein – empfiehlt sich sogar dringend! Wenn sich da also einmal zufällig eine Pause in der Raserei ergibt, dann nutzt bitte die Chance!
In den eigentlichen Nachtod-Erfahrungen stößt ein Vajra-Bewusstsein dann aber trotzdem auf das Prinzip von Akshobhya mit Buddhalochana und die spiegelgleiche Weisheit. Falls sich dann nach einer Weile der Verzweiflung irgendwann in den zornvollen Bilderwelten Licht auftut – „Danke, oh Herr!“ –, dann in der Form von Lochana. Natürlich spielen die bizarren Wirbel des persönlichen Karma hier auch eine sehr große Rolle. Aber Karma ist und bleibt auch nach dem Tod unberechenbar!

Man kann fast schon sagen das Gegenteil von Vajra-Bewusstsein ist das sogenannte Buddha-Bewusstsein. Wohl gemerkt: Es geht hier nicht um das Bewusstsein des historischen Buddhas oder eines Erleuchteten. Buddha bezeichnet in diesem Fall einen der fünf Bewusstseinstypen. Klassisch unterscheidet man zwischen Vajra, Buddha, Ratna, Padma und Karma als Bilder für die persönliche Grundeinstellungen der Lebenden und Sterbenden.
Das Buddha-Bewusstsein ist im schlimmsten Falle träge, faul und klagend. Buddha-Menschen sind nie erwachsen geworden. Sie haben ihr Leben nie vollständig und unabhängig selbst in die Hand genommen, sind quasi Barbies geblieben und nie aufgewacht. Sie haben wenig Verantwortungsgefühl. Alles ist zu schwer und zu viel. Suhlen sie? Ehrgeiz kommt beim Buddha-Typ nur selten vor. Da gibt es die Neigung billiges Zeug massenweise zu konsumieren.
Wenn man nun also mit diesem Bewusstsein stirbt, dann jammerst du nach dem Tod erst einmal einfach weiter: „Ich soll tot sein? Gibt es hier keine Hilfe? Wo ist denn hier der Notausgang? Mami, Papi! Hilfe! Keine Sozialhilfe? Keine gesundheitliche Versorgung? Ich finde keinen Halt? Wo treibt sich denn meine Therapeutin wieder herum? Schwebe ich? Sause ich? Wo ist meine Kuscheldecke? Was ist hier eigentlich los? Wo ist oben? Wo ist unten?“
Diesem Bewusstsein erscheint das Sein nach dem Sterben voller Hieroglyphen. Da tanzen Wesen auf zwei Beinen, haben aber teilweise zusätzlich Flügel, Köpfe von Schafen, von Kühen und Bullen, von Vögeln oder sogar Echsen. Du hast aber keine Augen, die man schließen könnte – und ebenso wenig einen Körper, den man abwenden könnte. Vergeblich suchst du nach Geborgenheit und Wärme. Diese wilden, kreischenden, fordernden und meckernden Wesen kommen auf einen zu und beißen und hacken ihre Schnäbel in dich hinein, aber du bist hilflos und gelähmt? Du kannst dich dem nicht entziehen und wirst immer wieder aufs Neue angeknabbert und aufgefressen. Einsamkeit in Vergessenheit! Liegengebliebene – und da zeigen sich auch schwabblige, übergewichtige Monster und Dämoninnen mit riesigen Titten, mit vielen sehr unterschiedlichen Köpfen gleichzeitig und mit von Fett triefendem Doppelkinn. Sie wälzen auf dir herum und erdrücken dich. Du erstickst? Du kannst nicht einmal klagen. Nicht einmal weinen? Womit soll ich jammern? Meine Monster lachen mich aus, werden immer größer und mächtiger und graben ihre Krallen und Zähne in das Fleisch meines Phantomkörpers. Niemand hört meine Schreie? Ich bin hilflos und nackt ausgeliefert. Weit in der Ferne gibt es Göttinnen, die Champagner saufen. Die sehen mich aber nicht, sind unerreichbar und scheinen eiskalt, herzlos, scharf und klirrend? Eiskalte, parfümierte Göttinnen? Auch ich friere und bin starr. Pflugscharen mit scharfen Messern walzen über mich drüber und reißen tiefe Furchen in meinen gerade erst erworbenen Phantom-Körper, welcher stark an meinen Körper zu Lebzeiten erinnert.
Nach Unendlichkeiten von Jammer, Kälte und Qual erkenne ich dann hoffentlich einen Funken vom weißen Meditationsbuddha Vairochana. Vairochana ist wie eine Sonne! Er ist in sexueller Vereinigung mit Dhatvishvari, der unbeschreiblichen Weite. In ihnen manifestiert sich reinste buddhistische Weisheit, der Dharma, die Lehre, der Buddhismus. Die einfachen Worte des Buddha. Aus Unwissenheit erstrahlt sonnengleich in Vereinigung mit unermesslicher Weite die Dharmadhatu-Weisheit, die Welt der wundervollen, buddhistischen Weisheitslehre. Es scheint tatsächlich so zu sein, dass die höchste Erkenntnis der Wirklichkeit am direktesten und klarsten aus unermesslich grenzenloser Unwissenheit erwacht, und nicht etwa aus höchster Intelligenz. Und ganz sicher ist überraschenderweise der Zugang zur höchsten Erkenntnis der Wirklichkeit und der Befreiung vom Leiden für ein Buddha-Bewusstsein viel leichter als zum Beispiel für ein Vajra-Bewusstsein.

Kommen wir zum Ratna-Bewusstseins-Typ. Ratna ist Sanskrit und heißt Edelstein. Hier hat sich der Sinn für Reichtum, materieller Sicherheit, Schönheit und Wichtig-Wichtig verhärtet. Ein Menschenleben lang hat sich das Bewusstsein in Angeberei und im Erkennen und Ersinnen von materieller Sicherheit und Wohlstand entwickelt. Gold, Edelsteine und Sicherheiten halten unsere Aufmerksamkeit gefangen, und damit auch das Gefühl etwas ganz Besonderes zu sein. Wer hat die teuerste Armbanduhr, wer den edelsten Maßanzug?
Du bist unermesslich reich. Dein Name steht jetzt schon an ganz vielen Stellen im Grundbuch. Und nie ist es genug. Du bist die Beste, und du prahlst damit! Millionärin zu sein bedeutet dir nichts mehr, du musst Milliardärin werden. Deine sichersten Garagen der Welt, mit den wertvollsten Fahrzeugen, verteilen sich über viele verschiedene Nationen. Ich schildere das hier etwas extrem, aber so kann man die Bewusstseins-Typen besser begreifen. Nach vorne angeben, und nach hinten sogar noch mehr Wohlstand suchen. Anerkennung und Sicherheit! Andere Wesen, Kinder, Ehemänner, Freundinnen und Lover werden im Wachstumsprozess eines Ratna-Typs mehr und mehr zu Statisten. Selbst der Ehemann ist nur noch zum Angeben da: „Kauf´ dir ´mal ein paar edlere Pantoffel, Schatzi!“ – Puh …!
Natürlich empfindet das Ratna-Bewusstsein nach dem Tod erst einmal Schmucklosigkeit und billigen Siff als tiefsten Schmerz, oder eben auch selber unsichtbar und unbedeutend zu sein. In der Ferne leuchtet und glitzert es, aber da kommst du nicht mehr dran und sitzt selbst im Dreck? Alles ist verloren. Sie applaudiert abscheulichen Monstern und Getier. „Hallo – hier bin ich!“, versucht das Ratna-Bewusstsein zu schreien, findet aber keine Stimme. Selbst die vielköpfigen, grauen Monster erschrecken das Ratna-Bewusstsein nur wenig, solange sie ihm nur ein wenig Aufmerksamkeit schenken. Und es muss einmal gesagt werden, dass schwarze-, blaue-, grüne- oder rote-glänzende Köpfe, je genauer du hinschaust, wirklich abstoßen und irrational Angst machen. Nichts kannst du mehr berühren, nichts ist konkret. Diese Monster trampeln versehentlich tollpatschig einfach durch dich hindurch. Der Phantomkörper, in dem ein Ratna-Typ sich durch die Nachtod-Welten bewegt, ist wie ein Avatar. Er ist nicht fest. Dieser graue oder auch giftgrüne Körper hat keine Substanz. Es kann keine Berührung stattfinden. Es gibt nichts Beständiges, nichts Festes, keine Bestätigung. Dein voriges Leben war nur ein wunderschöner, tiefer, glorreicher Traum. Mehr nicht. Selbst wenn du Präsident der USA warst. Hat man mich jetzt schon vergessen?
Doch auch in diesem Bereich gibt es einen treuen Helfer, den grüne Dhyani-Buddha Ratnasambhava – der Buddha mit Edelsteinnatur –, in sexueller Vereinigung mit der mütterlichen Mamaki – der Reinheit. Das Ratna-Bewusstsein hat sozusagen beim Erwachen nach unermesslichen Qualen in den Nachtod-Zuständen die Möglichkeit, seinen Stolz und seine Gewichtigkeit zu durchschauen, und kann so sogar die transzendentale Weisheit von Gleichmut erlangen? Das ist theoretisch möglich. Das ist aber auch praktisch möglich. Es ist immer möglich, aus den größten Untugenden Tugenden zu entwickeln und Erkenntnis. Denn allem Übel wohnt ein Zauber inne und sogar Gutheit?

Ich bin fast sicher, dass sich meine hochverehrten Leserinnen inzwischen fragen, mit welchem Bewusstseins-Typen sie sich selbst denn nun identifizieren können? Dazu muss ich erklären: Es gibt natürlich kein reines, hundertprozentiges Ratna-Bewusstsein oder Vajra-Bewusstsein oder Buddha-Bewusstsein! Jeder von uns hat Anteile von mehreren der fünf Grundtypen. Im Totenbuch offenbaren sich hier eher, Prinzipien und man kann sich also etwas darauf vorbereiten, was da auf uns zukommt. Hier werden Muster aufgezeigt, die helfen können, zu differenzieren und eben auch diese Muster selber als solches zu erkennen und zu durchschauen.
Ja – ich frage mich natürlich auch in welcher der fünf Buddhafamilien ich mich selbst am ehesten sehe? Aber ich rate dringend dazu, dich bei diesen Erwägungen immer und immer wieder neu zurück zu lehnen und weiter und tiefer zu hinterfragen und zu erspüren: Was bin ich? Und auch wenn immer ein Bewusstseinstyp dominiert, so sticht daneben immer ein zweiter Bewusstseinstyp auch deutlich hervor. Eigentlich bei jedem von uns. Und diese zweite starke Neigung kann nach dem Tod sogar noch wichtiger werden. Außerdem bringt die Beschäftigung mit den Buddha-Familien auch Änderungen mit sich. Es ist also durchaus möglich, dass wir uns wandeln und überraschend ein ganz andere Bewusstseins-Typ in den Vordergrund tritt. Das ist keine Seltenheit.

So, jetzt kommen wir zum Bewusstseinstypen Padma, der Lotosblüte und der Liebe, Reinheit, Erhabenheit, Lust, Begierde und Leidenschaft. Der Zeitgeist Anno 2025 hat sich bezüglich Liebesbeziehung und Sexualität derartig verändert, dass es mir schwer fällt, darüber im Zusammenhang mit den Nachtod-Erfahrungen zu schreiben. Der Zeitgeist scheint mir diesbezüglich im Augenblick geradezu zu rasen oder zu purzeln?
Kürzlich besuchte mich ein Freund, zu dem ich über zwanzig Jahre keinen Kontakt mehr hatte. Wir kannten uns sehr gut über unser Interesse an japanischer Kultur, Religiosität und am tibetischen Buddhismus. Er kam also bei mir an, betrat meine Wohnung und fast das Erste, was er sagte, war: „Ich habe vor ein paar Jahren in China über ein Jahr lang zusammen mit einer Einundzwanzigjährigen gelebt.“ Er sagte das so, als würde er sogar Applaus erwarten? Er fuhr dann fort, zu erzählen, was er seit unserem letzten Kontakt so alles erlebt hatte, sprach dabei aber eigentlich nur über seine diversen Beziehungen, Partnerschaften und Scheidungen in verschiedenen Teilen der Welt. Und früher, wenn er bei mir war, fand ich seine ausgetüftelten, schmutzigen und mehrstufigen Sexwitze immer sehr amüsant. Aber er erzählte immer noch dieselben schmutzigen Witze. Und ich – zu diesem Zeitpunkt mehr oder weniger ein Einsiedler – fragte mich, ob Beziehung und Sex inzwischen die bestimmenden Themen der Unterhaltung da draußen geworden waren? Das ist doch furchtbar langweilig? Deshalb werden es mir hoffentlich meine mitfühlenden hochverehrten Leserinnen verzeihen, wenn ich zum Thema Leidenschaft nicht zu sehr in die Details gehe. Ich traue mir aktuell ganz einfach nicht zu, den richtigen Ton zu finden. Vielleicht kenne ich mich auch ganz einfach damit nicht gut genug aus.
Gehen wir also wieder davon aus, dass da ein stark lotosgeprägtes Bewusstsein ist. Das heißt, da ist die Sehnsucht, Suche und Lust nach Befriedigung, die es natürlich nicht gibt. Mit jeder Befriedigung wächst die Lust ja weiter, und fantasiert sogar immer ausschweifiger. Wenn wir einer Lotosblüte – einer Padmablüte – eines der wunderschönen, reinen, weißen Blütenblatt auszupfen, dann bleiben unermesslich viele Blütenblätter übrig und wachsen sogar schnell nach. Ein solcher Blütenkelch ist unerschöpflich. Wenn nun das Vernaschen von Lotosblütenblättern plötzlich, harsch mit dem Tod, unterbrochen wird, dann rasen da die Lustfantasien einfach weiter, und Begierde wird endlich als unerträglicher Schmerz empfunden. Da schäumen übergroße Geschlechtsteile über, explodieren, ein Wirbel von Maden, Eiter, Fäulnis und Schmincktäschchen in stöhnendem Schmerz.
Aber gerade hier blitzt der rote Buddha Amitabha – der unermessliches Licht ist –, der Buddha der reinen Liebe und Güte, auf. Unglaublich! Seine Gefährtin ist Pandaravasini – die Weißgekleidete. Das reine Weiß der Pandaravasini sollte man nicht unterschätzen, so wie das Weiß eines kühlen und sanften Lotosblütenblattes, dass übrigens nie schmutzig wird, also nie Schmutz annimmt. Aber es ist ebenso auch das Weiß der Weißglut, und das habe ich mir nicht nur aus Fabulierfreude ausgedacht! Die Weisheit der beiden ist die klarunterscheidende Weisheit. Genaues, unbefangenes, vorurteilsfreies Hinschauen. Das ist die Chance für Erkenntnis. Die ist jedoch auch weißglühend, aber davon sollst du dich nicht abschrecken lassen.

Es bleibt noch das Karma-Bewusstsein. Karma hier nicht im Sinne von Folge, Schicksal oder Konsequenz, sondern Karma bedeutet immer erst einmal Handeln, Aktivität, Kreativität, Produktivität. Dem Verständnis hiervon kommen wir am besten nahe, wenn wir uns mit dem Mandalaprinzip – dem großen Ganzen – beschäftigen. „Auf allen Hochzeiten gleichzeitig tanzen“ – das versucht der Karma-Typ. Du stolperst von einem Projekt zum nächsten und lässt Fragen, Scherben und Verstörung zurück, aber natürlich auch Inspiration und Ideenreichtum. Du schließt nichts ab, stößt aber in alle Richtungen immer wieder Neues an. Bunte Kreativität. Hier gehört aber auch die Perfektionistin hin, die nie fertig wird, weil es eben keine absolute Perfektion gibt. Du richtest eine Küche ein, und immer wenn du gerade das letzte Detail fertig hast, taucht ein neuer Makel auf, den du vorher nicht bemerkt hattest. Alles muss raus und neu? Und so kann das immer weitergehen. Der Karma-Typ ist auch die, die die ach so heilige, wissenschaftliche Forschung immer weiter vorantreibt. Mikro-Physik? Mikro-Biologie? Makro-Weltsicht? Mega-Vision? Mikroskope? Definitionen? Weltall-Milchstraßen? Und so weiter …
Das gehört alles in den Bereich des Karma-Bewusstseins, und wenn so ein Karma-Typ durch den Tod ausgebremst wird, dann tobt, splittert und knallt das natürlich auch entsprechend. Wenn sich so ein Schaffens- und Forschungsdrang über Jahrzehnte verfestigt und vertieft hat, dann gibt es in den Nachtodzuständen überwältigend viel Unperfektes, Hässliches, Lautes, Fehlerhaftes, Ekelerregendes und Farbloses und so weiter. Die Dämoninnen, die dich hier jagen, haben diverse Tierköpfe, sind ungenau, nur halbfertig und schmuddelig, sind nicht einfach aus Haut oder Horn, sondern pechschwarz, oder schreiend und stinkend rot, und die Augen sind riesige, blutunterlaufend-weiße, stechende Blicke. Monster mit Hunderten von Augen, die alle lebendig und getrennt von einander gucken und suchen, und es kommen immer weiter neue Augen zum Vorschein und kugeln überall herum.
Und welcher Meditations-Buddha eilt dir hier zu Hilfe – wenn das Schicksal es denn schon zulässt? Er heißt in diesem Falle Amoghasiddhi, das bedeutet wörtlich unfehlbare Zauberkraft. Der grüne Amoghasiddhi ist mit der grünen Tara vereinigt. Tara bedeutet Retterin, und es gibt verschiedenfarbige Taras. Bei der grünen Tara stehen sanftes Mitgefühl, Freundlichkeit, Geduld und Sorgfalt im Vordergrund. Die fünfte der Weisheiten – sozusagen die Weisheit auf der Ebene von Karma, das ist die alles vollendende Weisheit.
Das ist witzig, wenn man sich vorstellt, wie so eine Karma-Person das ganze Leben lang herum gerast ist und immer wieder getrieben etwas Neues anfangen zu müssen. Immer neue geniale Ideen und Pläne aber eben auch die Unrast und überall offene Enden und Prozesse – und die Weisheit ist an dieser Stelle also die alles vollendende Weisheit! Und so kann man sich vorstellen, wie sich hier vielleicht Frieden und Befreiung einstellen können.

Jetzt sind fünf Gruppen unterschieden, und nun gilt es wirklich – als Vorbereitung auf deinen eigenen Tod – dich selbst anzuschauen und zu suchen und dich mit den einzelnen Bewusstseins-Typen auseinanderzusetzten und zu vergleichen.

Jetzt komme ich zum Ende des siebten verrückten Kommentars. Ich werde in einem Anhang ein paar kurze, starke Gedichte aufschreiben, wovon man ein oder zwei möglichst jeden Tag als Vorbereitung auf das Jenseits mehrmals auswendig rezitieren sollte. Kauft euch einen Rosenkranz! Im Grunde prägen wir uns ja über unser Leben bestimmte Gewohnheitsmuster ein, und es könnte durchaus hilfreich sein, wenn man nach dem Tod sozusagen eine heilige Bardo-Befreiungshilfe dabeihat – ein Werkzeug – in Form eines Gedichtes oder eben magischer Formeln und Mantras. Natürlich müssen wir diese Weisheitsgesänge schon so verinnerlichen, dass sie uns auch zur Verfügung stehen, und an dieser Stelle sei daran erinnert, dass unser Gehirn – wo wir zumindest vermutlich Texte abspeichern – nach dem Tod außer Betrieb ist. Also, so etwas sollte schon aus einer weiteren und tieferen Ebene erklingen als einem biologischen Gehirn oder aus einem biologischen Herzen.

OM MANI PADME HUNG HRIH!

Wenn man sich zu Lebzeiten mit einer Bodhisattva – egal ob männlich oder weiblich – eng bekannt gemacht hat, indem man für sie zum Beispiel regelmäßig Rituale ausgerichtet hat, Mandalas errichtet und wieder aufgelöst, Bilder und Statuen davon in Wohnung und Garten stehen hat, wenn man Gebete und Gesänge gelernt und verinnerlicht hat zu Kshitigarbha oder Lasya, Vajrapani oder Gita, Manjushri und Gandha oder zum Beispiel auch dem Erzengel Michael (!), und man sie wirklich lieb hat, spürt und wahrnimmt, dann stehen sie dir vielleicht sogar näher als die Meditationsbuddhas der fünf Buddhafamilien, und nehmen möglicherweise deren Platz ein. Um so besser! Das ist natürlich wundervoll! Aber so eine Beziehung aufzubauen, das braucht Zeit und Mühen, so wie auch jede zwischenmenschliche Beziehung! Da reichen nicht ein paar Gefühle zu österlicher Zeit. Eine Pilgerreise könnte da zum Beispiel sehr hilfreich und vertiefend wirken! Es ist nie zu spät!

Schnappt euch eure Rosenkränze und zieht los!

Hey Ho Hi Hi Ha Ha und Ho!!!

Veröffentlicht von

Winfried Kopps

Winfried Kopps wurde 1951 im Rheinland geboren. Er kam schon sehr früh mit existentialistischer Literatur in Berührung. Die ersten Autoren waren Frisch, Eich, Huysmans, Nietzsche, Sartre und Camus, aber insbesondere wurde er von Hermann Hesse, Rudolf Steiner und LSD erzogen und beeinflußt. Mit 16 las er einen Text über Buddhismus und fühlte sich sofort tief verbunden. Mit 20 verdingte er sich als Fabrikarbeiter und verdiente genug Geld um eine 15-monatige Pilgerreise, Morgenlandfahrt, nach Asien finanzieren zu können. Darauf folgte eine zweijährige Einsiedelei in Spanien. In New Dehli las er die ersten Zeilen von Chögyam Trungpa Rinpoche und erkannte in ihm seinen Guru. Neben dem Studium und der Praxis des Buddhismus und der Shambhala Lehren unter der Leitung von Chögyam Trungpa Rinpoche und Sakyong Mipham Rinpoche, erforscht er weiterhin begeistert viele verschieden religiöse Traditionen. Er ist Vater von zwei erwachsenen Söhnen und verdient sein Geld als Unternehmensberater.