Meinem unbewußtem Bemühen um Wissenschaftlichkeit kam die Unterteilung in drei Körper nach Rudolf Steiner sehr entgegen. Meine wissenschaftliche Suche danach, was oder wer denn da eigentlich nach dem Tod noch da sein könnte und zuhören und möglicherweise vielleicht sogar noch agieren, diese Art des Hinterfragens und Zweifelns war natürlich ganz typisch für die Neunzehnhundertsechziger, der Zeit mit galoppierenden technischen Fortschritten, und deren umwerfenden Ergebnissen und Spielzeugen, inklusive auch immer wirkungsvolleren, tödlichen Waffen und digitalen Ablenkungen.
Die Wissenschaft, so wie eigentlich alle Weltanschauungen, denkt von sich den Blick zu öffnen und Geheimnisse zu ergründen, aber tatsächlich suchen auch „offene“ Forscher auf ihren abenteuerlichen Reisen immer nach Antworten, und gerade Forschern ist Ungewissheit besonders unerträglich, denn das treibt sie ja an. Das stimmt sicher nicht immer für Forscherinnen, solange sie noch jung sind, aber auch die werden älter, und dann wollen sie die Löcher schließen und verbindliche Antworten und damit Gefühle von Sicherheit und natürlich auch Weisheit.
Aber ganz offensichtlich war Buddhismus da wirklich völlig anders. Fragen ja, aber ohne Schlussfolgerungen. Buddhismus bot neue Sichtweisen und Herangehensweisen und auch Einsichten in Vorgehensweisen und Verhalten von Menschen, aber nie verbindliche Antworten? Buddhismus kommt nie zum Abschluss, auch mit der Erleuchtung nicht. Immer neue weite Welten von Fragen, aber eben nicht ergebnisorientiert. Mir war das damals aber noch zu hoch. Ich verstand theoretisch wohl schon, dass man Phänomene, sobald man sie benannte und einordnete, damit auch ein gutes Stück weit entzauberte. Ich war aber wohl noch der Ansicht, dass es genau darum ging, nämlich: zu entzaubern und Klarheit zu schaffen. Ich war immerhin so sozialisiert. Es ging den Nachkriegs-Westlern in den Sechzigern fast allen darum, zum Beispiel christlichen Aberglauben zu entzaubern. Zwar eilten da die Erwachsenen vorne weg, behielten das aber eher noch im Hintergrund auf der Hinterhand im Bereich der geheimen Agenda. Für unsere Eltern war das also eher Tabu, aber für uns Jugendliche eben dann nicht mehr. Das war eine sehr starke Bewegung, und die Vertreter des Christentums standen hilflos daneben, denn Magie wollten sie ja selber nicht mehr verteidigen. Das war doch des Teufels, den es für sie allerdings übrigens damals auch schon lange nicht mehr gab. Gähnende Leere in den Kirchen? Zumindest in Deutschland. Waren die Vordenker des Christlichen faul geworden?
Ich musste mich aber dann schließlich auch selber fragen, ob ich mich auf der Suche nach Erkenntnis mit Hilfe einer Unterteilung in drei Körper nicht selbst auch verirrt hatte. Ich wendete die alten wissenschaftlichen Muster an, die mir eingebläut worden waren? Also tauschte ich doch auch nur den christlichen Glauben gegen den Glauben an wissenschaftliches Denken und Vorgehen aus? Ich war der Wissenschaft auf den Leim gegangen, so wie unser Rudi übrigens auch.
So, nun lag aber tagaus tagein dieses Tibetanische Totenbuch vor meiner Nase und ich las auch immer wieder darin. Fast lieber als in dem eigentlichen Text stöberte ich damals in Lama Govindas 400 Fußnoten herum. Lama Govinda erklärt leicht verständlich und klar und oft auch emotional, mit ebenfalls einer sehr westlichen Denkweise. So bekamen seine Kommentare einen persönlichen, vertrauten und eigentlich auch charmanten Touch, gerade deshalb, weil er eben selber noch nicht frei vom Unterscheiden zwischen richtig und falsch war? Falsches Verständnis – richtiges Verständnis. Aber er wollte durch einen im Westen damals noch völlig unbekannten Dschungel an neuen Sicht- und Vorgehensweisen ja auch Wegbegleiter sein. Lama Govinda war in Asien ein echter und tief religiöser Buddhist geworden: Fragen und Forschen ja, auch Vergleichen, aber verbindliche Antworten braucht man gar nicht, um glücklich zu sein.
Aus heutiger Sicht muss man wohl sagen, dass die erste Ausgabe des Totenbuchs von 1927 ohne Kommentare und sonstigem Firlefanz eigentlich gar nicht so schlecht war, und man den Text einfach in dieser Form bis in die Siebziger immer weiter unverändert hätte herausgeben können. Aber mich persönlich, und übrigens auch viele westlich buddhistische Freundinnen in meinem Alter, denen ich später begegnet bin, haben eben diese Kommentare und Betrachtungen von Lama Govinda damals so inspiriert und auch wirklich weiter geholfen.
Bei Lama Govinda ist von der Unterscheidung zwischen physischem Körper, Ätherkörper oder Astralkörper keine Rede. Aber es geht immer wieder um Körper, Rede und Geist? Und weiter dann auch um Körper, Rede und Geist einer Erleuchteten, die hießen dann auf Sanskrit Nirmanakaya, Sambhogakaya und Dharmakaya.
Aha! Fand ich hier dann hier jetzt doch Rudolf Steiners drei Leiber wieder?
Nein. Ganz sicher: Nein!
Hier rate ich nun der hochverehrten Leserin wieder einmal wieder innezuhalten! Was hat sich verändert? Was war denn jetzt anders oder neu? Sollte diese Unterscheidung zwischen physischem Körper, Ätherkörper und Astralkörper wirklich entzaubern? Und warum entzaubert dann die Unterscheidung zwischen Körper, Rede und Geist nicht genauso?
Hier sollten wir nachdrücklich innehalten. Diese Vergleiche können nämlich außerordentlich hilfreich sein! Nehmt euch etwas Zeit dafür! Ihr müsst diesen Text gar nicht auf einmal zu ende lesen. Apropos: Ihr müsst den Text natürlich sowieso nicht zuende lesen.
Auch wenn das vielleicht wissenschaftlich und auch medizinisch weniger verwertbar sein mag, tauschte ich etwas scheinbar Eindeutiges und Klares gegen eher Vages und Unpräzises? Ebenso gut könnte ich aber auch sagen, dass ich die Sicht von Körper-, Äther- und Astralkörper die aus einem starken Bedürfnis nach Erklärung, nach Lösung hervor gegangen war, eintauschte gegen Körper, Rede und Geist, die weit und offen bleiben und möglicherweise Raum für Zauber lassen?
Also: Körper ist ein ganzes Universum, Rede ein weiteres unendliches Universum und Geist ist ebenfalls unendlich, weit und offen. Alles also im Grunde ungreifbar und magisch?
Die aufmerksame Leserin wird verstehen, dass es für mich, den jugendlichen Sucher, damals gar nicht so leicht gewesen sein konnte, den festen Boden zum Beispiel der Erklärungen zu den drei Körpern – also physischer Körper, Ätherkörper und Astralkörper – aufzugeben, die ich mir ja gerade erst mühsam erarbeitet hatte, und die mir übrigens im Yoga, Pranayama, Meditation und sonstigen Energieübungen große Dienste erwiesen. Mich stattdessen auf die Magie und Weiten von Körper, Rede und Geist einzulassen, das zeigt glaube ich, wie nahezu verzweifelt ich damals suchte. Ich glaube, dass der eigentliche Grund für diese Besessenheit von den Wundern ausgelöst wurden, deren ich mir mehr und mehr bewusstwurde. Ich war umgeben von Wundern. Da war etwas …? Ich erkannte zunehmend Zusammenhänge einer anderen Art. Und ich konnte mich damals nicht einmal mit meinen Freundinnen darüber austauschen, denn ich stieß da auf Unverständnis.
Und dann wandelte sich plötzlich ganz ohne ersichtlichen Anlass meine Wahrnehmung von mir und der Welt, in der ich lebte. In mir – bei mir – passierte etwas und ich stand überraschend mitten in einer wundervollen Welt. Das war kein Prozess, sondern urplötzlich legte sich ganz einfach eines Tages ein Schalter um, und da war sie: die magische Welt. Einfach so. Wie Aufwachen. Eben ein Wunder. Und damit verbunden war da ein Aufatmen, eine Erleichterung? Es gab kein Zurück. Viele Fragen und Vorstellungen waren ganz einfach wie weg, durchsichtig, und vieles erkannte ich als total überflüssig? Die Lehre von den drei Körpern war plötzlich ganz einfach eine hilfreiche Methode und weiter nichts, entstanden unter dem Druck des Zeitgeistes des 19. Jahrhunderts.
In der magischen Welt gab es kein Sezieren mehr, kein Vergleichen und Benennen und auch keine Logik und kein richtig oder falsch, wahr oder unwahr, existent oder nicht-existent. Kein Oben und kein Unten mehr.
Überrascht sah ich das Totenbuch von einem Moment auf den anderen mit ganz anderen Augen. Es war noch viel lebendiger, berührbarer und bunter geworden.
Es gab in Wirklichkeit keinen Körper-Körper, Ätherkörper und Astralkörper! Diese Unterteilung, das waren natürlich praktische Hilfen zur Energiearbeit, zum Yoga, zum Pranayama, Tai-Chi und zur Meditation, aber eben doch nur technische Hilfsmittel. Und ja – es war schmerzhaft, diese liebgewonnenen Unterscheidungen zu transzendieren, was ja nichts anderes bedeutet als sie zu durchschauen und für immer loszulassen. Vielleicht war es schmerzhaft, aber daran kann ich mich nicht erinnern. Wie auch immer: Es gab sowieso kein Zurück. Die sogenannte materialistische Intelligenz verlor ihre Kraft beim Erwachen in einer sozusagen magische Welt und wurde gegen eine spirituelle Intelligenz eingetauscht.
Puh …! Das war ein Erwachen! Das war schon was! Und es erinnerte mich in vieler Hinsicht an die Ersten meiner psychedelischen Reisen. Sehr stark sogar.
Und „Es wehte ein rauer Wind hier draußen!“
Da gab es damals einen sehr psychedelischen Song von Eric Burton, in dem man hörte, wie von innen ein Küken gegen die Schale seines Eis schlägt, dann knackt und kracht es – ein herrliches Klangerlebnis. Und dann sieht man förmlich, wie das Küken den Kopf aus dem Ei herausstreckt, neugierig und keck, ein paar Mal piepst und dann ziemlich bald – zerzaust und noch von Eiweiß bekleckert – erschrocken und nach Luft ringend laut und deutlich sagt: „Puh – es weht aber ein rauer Wind hier draußen!“ Ich fühlte mich also wie dieses Küken, und es gab auch für mich kein Zurück in die Geborgenheit der Eierschalen von Erklärungen und Definitionen.
So, und wo soll ich mich hier nun dran festhalten?!
Theoretisch hätte ich mich in eine Liebesbeziehung, neue Karrierepläne oder künstlerische Aktivitäten flüchten können. Oder ich hätte auch Psychopharmaka nehmen können, um in die sichere alte Welt zurückzukehren, aber eben leider auch nur theoretisch. Ich konnte und wollte mir damals einfach nichts mehr vormachen. Es gab kein Zurück mehr. Hat man das magische Auge erst einmal geöffnet, dann gibt es übrigens meistens kein zurück mehr. Und außerdem waren da eben auch Gefühle von Heimkehr, sozusagen romantische und entzückende Gefühle. Wie nach dem Kopfsprung in einen Bergsee vielleicht.
Die Leserin darf schmunzeln! Ich muss jetzt erst einmal lachen. Winni nackig in einem Bergsee. Das ist schon irgendwie ein ganz gutes Bild.
Begeistert warf ich mich in die Arme der magischen Welt von Körper, Rede und Geist, einer Weltsicht, die ich aus früher Kindheit her kannte. Fehlte nur noch, dass ich wieder Windeln vollkackte.
Körper jetzt nicht mehr im Sinne von physischem Körper, sondern allgemeiner und weiter: Körperliches, Festes, so wie Stein, Erde, der menschliche Körper, Fleisch, Haut, Glieder, Wasser, Berge, Feuer, Schuppen, Tuch und Wind. Banane und Fußnägel. Ein Universum, das immer weiter wurde, je genauer man hinschaute.
Mit Rede waren diverse Ebenen der Kommunikation, des Miteinander gemeint: Flüsse, Energien, optische Energiefelder, Sex und Berührung, gemeinsames Teilen und Fühlen, Gesten und Symbole. Andeutungen und Gemälde. Zu Rede gehörten auch surreal und abstrakt. Romantik. Musik. Mantras. Kunst. Zaubersprüche und Gebete. Gedichte und Sitarklänge. Geben und Opfern.
Und schließlich dann Geist: unermesslich, Denken, Weite, Gefühle, Kreativität, Wille, Zorn, Strahlen, gegenstandslose Meditation, Weltall, Intelligenz und auch Logik und Folgerungen aber ohne verbindliche Schlussfolgerungen und Konsequenzen.
Da war also ganz überraschend beim Stöbern im Tibetanischen Totenbuch etwas sehr Tiefgreifendes mit mir geschehen. Ein Blitz war eingeschlagen, eine Tür hatte sich ganz einfach von selbst aufgetan und ich war zum Mystiker geworden.
Endlich – kann ich wohl aus heutiger Sicht sagen. Und das war nicht einmal auf einem meiner damals häufigen LSD-Trips geschehen, sondern beim Sinnieren, Betrachten und Erspüren, beim Schmökern in diesem Totenbuch, das ich im Grunde nicht verstand, und übrigens was das betrifft, blieb ich auch weiterhin blockiert. Ich stieß da immer wieder auf Widerstände.
Aber Unermessliches schien plötzlich denkbar und möglich und meine kleine, ängstliche Welt öffnete sich, wurde bunter, strahlender und verrückter. Es ging nicht mehr um die Befestigung und Einmauerung eines Ich oder Selbst, nicht mehr ums Überleben oder wichtig sein. Nicht mehr um richtig oder falsch.
Und nicht nur das Ich, sondern sogar die ganze Welt um uns herum war illusionär und hatte sich zumindest zu einem großen Teil erst im Laufe der Zeiten, des Heranwachsens und über Ausbildungen und Erziehungen manifestiert und stabilisiert. Vergeblich suchte ich aus Gewohnheit in meiner neu entdeckten, magische Welt nach Bestätigungen, aber da war natürlich nichts. Es war so, als versuchte ich, ein dreidimensionales Hologramm zu ergreifen. Daran musste ich mich nun erst einmal gewöhnen. Endlich durchschaute ich die selbst auferlegten Einengungen und Beschränkungen zu der dieses ständige Suchen nach Ergebnissen, nach sogenannten Tatsachen geführt hatte.
Heute denke ich, dass für solches Erwachen die Zeit reif sein muss, und die Umstände, die Umgebung und so manche Details, und auch der Zufall musste mitspielen und die jenseitigen Wesen vorort. So etwas kann man nicht erzwingen, das geht nicht auf Kommando, aber es gibt Auslöser dafür etwa in Kunst und Literatur, und bei mir waren es eben Lama Govindas Kommentare zu diesem Tibetische Totenbuch.
Ich begann also auf eine neu Art zu erfahren, und die Zauberwörter hießen jetzt ganzheitlich, tänzerisch, weit und ungewiss. Übrigens merkte mein gesellschaftliches Umfeld, also meine Familie und meine Freundinnen, vermutlich nur wenig davon. Ich war damals sowieso wunderlich wie Lederstrumpf gekleidet, langhaarig und unrasiert. Es ist sonderbar, dass es gar nicht auffällt, wenn man nicht mehr dauernd zwischen richtig und falsch unterscheidet und nach Erklärungen sucht. Aber vermutlich bin ich den Leuten damals schon auf die Nerven gegangen. War ich ihnen zu vage und versponnen? Aber tatsächlich war ich beliebt und gerne gesehen und sogar Klassensprecher, also so schlimm kann es nicht gewesen sein.
Auch meine Sicht auf Sterben und Vergehen wandelte sich. Erneut musste ich mich fragen, welchen Unterschied, denn so ein Tibetisches Totenbuch im Falle eines Todes machen konnte. So ein heiliger Text? Und so entstanden neue Räume für frische Ansätze und mutige Entscheidungen.
Nun wird die aufmerksame Leserin sich fragen, wie ich wohl in meiner neuen Begeisterung auf meine frischen, erst kürzlich erlebten Erfahrungen mit den Lehrreden Buddhas zurückblicken konnte. Hatte ich doch vor nicht all zu langer Zeit noch geschwärmt, wie logisch und folgerichtig Buddha einfach alle Phänomene (Dharmas) nach ihren Namen, Ursprung und ihr Vergehen aufgezählt hatte, und zwar geordnet nach heilsam, unheilsam, neutral oder Elemente der Stufen der Meditation. Auf den ersten Blick schien Buddha da doch eigentlich selber ein Trenner, Sezierer und Unterscheider. Verhielt sich seine Logik da nicht eigentlich genau so wie Teleskope und Skalpelle zu den Dharmas? Nun, die Antwort ist einfach: Buddha empfahl, genau hinzuschauen und Ausschau zu halten nach Anfang, Mitte und Ende eines jeden Phänomens. Doch diese Herangehensweise führte dazu, dass man die Leerheit jedes einzelnen Phänomens erkannte. Wir waren also im Grunde genau auf einer Wellenlänge, und eben gerade dadurch erweiterte sich auch meine Sicht auf die Grundlagen und Lehren des historischen Buddha Shakyamuni. Ich verstand die Sache mit den Dharmas jetzt noch einmal besser. Und Buddha wurde sozusagen ein normaler Mensch für mich. Übrigens war Hermann Hesses Roman Siddhartha daran auch nicht ganz unschuldig daran. (Wir befinden uns immer noch am Ende der Sechziger Jahre, und Hesse war damals noch sehr angesagt.)
Natürlich machte es Sinn, eine Liste aller denkbaren Dharmas und auch die Stufen der Meditation zu erstellen. Ruhig auch buchhalterisch. Und in diesem Zusammenhang machte es auch Sinn, möglichst pingelig genau zu unterscheiden. Aber da waren ja auch die Meditation und die Stufen der Meditation, und um tiefer zu schauen, braucht es Verlangsamung! Hier musste jede Form von Ziel transzendiert werden! Zeit verstreichen lassen! Nichts tun. Noch mehr Zeit verstreichen lassen. Mit einem offenen und weiten Geist schauen. Dann rückt die magische Welt in den Blick. Herzliche Glückwünsche! Ich reiche dir die Hand meine liebe Freundin!
So, und jetzt fehlte nur noch, dass Götter, Engel, zähnefletschende, blutsabbernde Dämonen, Hexen, Blutsauer, Elfen und Trolle, Schutzgöttinnen, Meditationsbuddhas und so weiter um die Ecke schauen. Und da muss ich kleinlaut vorwarnen, denn dazu komme ich tatsächlich auch noch.
In mir war eine neue, andersartige Sehnsucht erwacht.
Aber wonach eigentlich?
Jedenfalls wollte ich mein Leben ändern! Es sollte eine neue Richtung bekommen. Ich meldete mich also an der Berufsschule einfach ab – der Stellvertretende Direktor der Schule flehte mich kniend an (ohne Übertreibung: der kniete wirklich vor mir): „Bleiben Sie doch! Werfen Sie Ihre Zukunft nicht einfach weg!?“ Das war sehr komisch, und ich fühlte mich wie Van Gogh, der sich ein Ohr abschneidet. – Mein Entschluss stand aber fest: Das Ohr muss ab!
Und so ging ich dann für ein ganzes Jahr in die örtliche metallverarbeitende Fabrik, zum einen um Erde zu bekommen und Bodenhaftung, wie ich es nannte, und zum anderen ganz einfach auch um Geld zu verdienen und dadurch selbständig und frei zu werden.
Und dann brach ich endlich auf – inzwischen hatten wir 1973 –, und die Pilgerreise nach Asien begann. Ich wollte nach Indien, in Buddhas Heimat und wollte offen sein für Überraschungen aller Art? Hey Ho!!
Ich möchte nun aber an dieser Stelle nicht zu weit vom Thema abkommen, indem ich über meine Abenteuer als Pilger nach Asien erzähle, sondern ich spule einfach ein ganzes Jahr vor, direkt nach Südindien in ein tibetisches Flüchtlingslager, wo es zwei sehr wichtige Ereignisse im Zusammenhang mit dem Tibetischen Totenbuch gab.
Das blaue, gebundene Tibetanische Totenbuch selber hatte mich auf meiner Reise lange begleitet. Aber hoch im Himalaya im Kullu Valley überlebte ich nur knapp eine Lungenentzündung, wahrscheinlich nur deshalb, weil mein Bruder, der Arzt ist, mir ein Antibiotikum mit auf die Pilgerreise gegeben hatte, und dazu kam wohl auch die Kraft meiner Jugend und nicht zu vergessen: die segensreichen Beschützerinnen und Schutzgottheiten des Kullu Valley.
Von Entzündung und Wahn genesen, war ich dann aber körperlich so geschwächt, dass ich meine vierzehn Texte, teilweise gebundene Bücher, nicht weiter mitschleppen konnte. Ich musste mein Gepäck drastisch reduzieren, ganz einfach um zu überleben und die Rückreise in die Zivilisation zu schaffen. Meine Ausgabe des Tibetanischen Totenbuchs blieb also unter einem Bettgestell in einer Blockhütte im Kullu Valley zurück.
Nun war ich also schon ein ganzes Jahr lang auf Pilgerfahrt. Inzwischen hatten wir das Jahr 1974, und ich war mit meinem tibetischen Freund für ein paar Wochen nach Bylakuppe, Südindien gereist, in ein tibetisches Flüchtlingslager, um die Neujahrsfeierlichkeiten mit seiner Familie dort zu zelebrieren.
Sein Vater und ich schliefen im Wohnzimmer auf Podesten – seines war bedeutend höher als meins – und morgens bei Sonnenaufgang setzten wir uns zurecht und begannen mit unseren morgendlichen Studium religiöser Texte, während die Hausfrau uns mit Buttertee versorgte. Und tatsächlich las Tashis Vater jeden Morgen laut das Tibetische Totenbuch, natürlich auf Tibetisch. Sein 25-jähriger Sohn war nämlich einige Wochen vorher bei der Feldarbeit plötzlich einfach tot umgefallen. Der Guru der Familie hatte nun dem Vater erklärt, er solle zum Wohle des verstorbenen Sohnes und der Familie täglich laut das Tibetische Totenbuch rezitieren und dabei an seinen Sohn denken. Auf dem Schrein standen ein paar Gegenstände, die uns an den Verstorbenen erinnern sollten. Hier offenbarte sich jetzt also die praktische Bedeutung des Totenbuchs in der tibetischen Gesellschaft. Der Vater las nicht nur für den Sohn, sondern er vertiefte so auch sein eigenes Verständnis von Sein und Sterben und seine Frau saß dann wie so oft auf der Schwelle zwischen Küche und Wohnzimmer hörte zu und rezitierte Mantras zur Erweckung von Mitgefühl und zählte sie ab auf ihrer Gebetskette.
Das zweite wichtige Ereignis, von dem ich hier erzählen möchte, ereignete sich auch im Flüchtlingsdorf. Am letzten Tag des alten Jahres versammeln sich die Tibeter und beenden das alte Jahr, indem sie dem Schwarzhuttanz beiwohnen. Dieser Tanz wird zum Neujahr von den höchsten Meistern getanzt und zelebriert, die dann Schwarzhut und Kostüm tragen, sich in Trance begeben und dann auch tatsächlich über sich selbst hinauswachsen, ein übrigens unglaublich beeindruckendes Erlebnis!
Ich war damals der einzige Westler im Camp und damit etwas Besonderes. Mein Freund wollte mich nun also unbedingt dem obersten Meister des Klosters, dem ehrwürdigen Penor Rinpoche, persönlich vorstellen. Auf dem Weg zu dem kleinen Häuschen in dem Penor Rinpoche lebte, kamen wir an einem riesigen Fundament vorbei. Das musste einen halben Fußballplatz groß sein. Hier und da ragten ein paar Stahlstangen heraus. Es war in Zement gegossen. Auf diesem Fundament tobten ganz viele junge Mönche, also kleine Jungs in Mönchsgewändern, im Alter von 5 bis 12 Jahren herum. Ich glaube einige der Kindermönche spielten Fußball. Jedenfalls ging ich mit meinem Freund daran vorbei, und sofort stach mir ein merkwürdiger kleiner Junge ins Auge – vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Ich konnte meine Blicke nicht von ihm lassen. Dieses Kind hatte einen ganz eigenen Zauber, einen Charme, ein Strahlen, es leuchtete auf eine eigene, sonderbare Art? Er befand sich mitten im Knäuel der spielenden Kinder, aber ich glaube er bewegte sich ruhiger und gesetzter als die anderen. Ich starrte den Kleinen weiter an, und versuchte herauszufinden, warum er so besonders war, aber ich konnte keine Erklärung finden und war ganz einfach verzaubert, wie verliebt. Also fragte ich meinen Freund: „Was ist mit diesem Kind da vorne?“ Tashi wusste sofort, wen ich meinte und antwortete: „Das ist der Tulku – die Reinkarnation – des verstorbenen Gurus von Penor Rinpoche.“ Das fand ich damals ziemlich irre. Obwohl überall von Wiedergeburt geredet wurde, hatte ich so meine Zweifel und konnte es mir immer noch nicht konkret vorstellen. Aber der Kleine war ganz offensichtlich ein echtes Wunder? Man nennt solche Reinkarnationen von Erleuchteten oder fast erleuchteten Meistern auf Tibetisch Tulku (die Sanskritentsprechung lautet Nirmanakaya, was so viel wie Körper eines Erleuchteten bedeutet). In diesem Moment versicherte ich mir selbst nachdrücklich: „Wiedergeburt, zumindest von religiösen Meistern, das gibt es tatsächlich.“
Kurz darauf Penor Rinpoche zu begegnen, war dann eigentlich der Moment, endgültig in Ohnmacht zu fallen, denn ihn umgab eine für mich völlig neue Weite, Macht und Intensität, wie ich sie bis dahin noch nie erlebt hatte.
Einige Wochen später habe ich mich dann auch bei der Segnung durch den Dalai Lama wieder völlig verloren. Ich fühlte mich nur noch wie Licht und Seligkeit. Ich schaffte es damals noch wankend in mein Zimmer, wo ich dann einen ganzen Tag lang einfach nur noch bewegungslos, aufrecht auf meinem Bett gesessen war, was ich dann Meditation nannte.
Später bin ich dann vielen erleuchteten Meistern begegnet und auch immer wieder irgendwie verloren gegangen, aber es wurde mir vertrauter in solche Energiefelder –vielleicht sind es eher sogar energiefreie Felder – einzutreten. Ich konnte mich bei späteren Begegnungen mit dem Dalai Lama ganz normal mit ihm über weltliche Dinge unterhalten und austauschen. Bei dieser ersten Berührung damals, war ich jedenfalls überwältigt und fühlte mich hilflos und selig zugleich.
So, und jetzt bin ich wohl endgültig vom Thema abgekommen …