3. Körper – Atem – Emotionen

Der Grundgedanke des Tibetischen Totenbuches war mir klar: Man liest am Sterbebett und in den ersten Tagen nach dem Tod immer wieder den Text des Tibetischen Totenbuches laut vor, und die gerade Verstorbene nutzt das, was sie hört als Wegweiser durch die unbekannten Welten, Visionen und Wahrnehmungen, die man nach dem Tod möglicherweise erfährt. Man liest entweder in der Nähe des Leichnams oder an einem Ort, der der Lebensmittelpunkt der Verstorbenen war. Das Totenbuch soll wie ein regelmäßiger Weckruf wirken und Mahnung und insbesondere Hilfe sein, um mit dem Zustand der plötzlichen Körperlosigkeit und dem unbekannten, völlig fremden Zustand besser klarzukommen und darüber hinaus diese Zeit nach dem Tod des Körpers sogar für die Erlangung der Voraussetzungen einer glücklichere Zukunft zu nutzen. Angeblich bietet der Tod sogar jedem Menschen in dieser Zeit nach dem Tod in ganz besonderer Weise die Chance, sich für immer von allen Leiden zu befreien. Würde das bedeuten, dass man nach dem Tod die große Befreiung erlangt? Der spezielle Moment des Sterbens böte demnach die Möglichkeiten, sich aus dem Kreislauf – aus der Gefangenschaft – des immer wieder schmerzvoll Geborenwerdens und eine leidvolle Identität nach der anderen durchleben zu müssen, zu befreien und sogar Erleuchtung zu erlangen, also sich selber völlig in einer Art Leuchten, Frieden, Grundgutheit oder grenzenlose Intelligenz aufzulösen? Die eigene Identität könnte sich rückstandslos mit der großen Güte und Weisheit, dem Ursprung allen Bewusstseins verbinden? Man sollte sich das so vorstellen, dass da jemand schläfrig und unwohl vor sich hinlebt, in einem Leben, dass nicht einmal als Schmerz und Qual wahrgenommen wird, weil man nichts Anderes kennt. Man taumelt also hilflos herum und stößt hier und da an, aber dann – oh Schreck – kommt plötzlich der Tod. Aber das erfährt man wie ein schreiendes Erwachen, wie eine überraschende Explosion? Das konnte ich mir sogar vorstellen. Panik eben? Nackte, wache Panik! Und in dieser Panik könnten wir theoretisch hellwach werden und sogar das Richtige tun? Das allerdings erschien mir erst einmal etwas sehr optimistisch. Als Kind des Wirtschaftswunders war ich immer zögerlich, wenn etwas besonders günstig sein sollte. Dazu liefen damals schon viel zu viele Versicherungsvertreter, Anlageberater und Staubsaugerverkäufer herum. Wir wussten alle, dass wir auf der Hut sein mussten vor sogenannten günstigen Angeboten und großen Versprechungen.
Und dann immer wieder die bohrenden Fragen: Wie und wieso und besonders was machte denn da nach dem Tod des Körpers überhaupt noch Erfahrungen? Was hört denn da, wenn die Ohren kaputt sind? Was sieht denn da, wenn die Augen starr geworden sind, und was begreift da eigentlich irgendetwas, wenn sich das Gehirn in eine stinkige, graue, weiche Masse verwandelt hat?
Immer wieder meldete sich mein wissenschaftliches Weltbild, meine Erziehung und die eher einfältigen Vorstellungen und Ängste der Menschen um mich herum.
Ich war extrem skeptisch, aber eben doch auch sehr interessiert und neugierig. Ich wollte das Sein Verstehen. Existentia. Rückblickend finde ich, dass es sogar mutig war, mir solche Fragen zu stellen, oder? Man könnte erwarten, dass das sehr naheliegende, einfache, typische Fragen für einen aufgeklärten Mitteleuropäer der sechziger Jahre waren. Aber man machte sich damals nicht gerne Gedanken über den Tod. Tod war Tabu und wenn jemand verstorben war, dann war schon beim Totenschmaus weitgehend alles vergessen und vorbei. Aber die spannende Frage blieb doch: Sollte es da ein unsichtbares Selbst geben, das eigenständig war und ganz unabhängig vom Körper wahrnehmen konnte? So etwas wie ein Ich, oder vielleicht auch nur eine kontinuierliche Ich-Illusion? Eine Seele? Ein Bewusstseinsprinzip? Was auch immer? Irgendetwas? Meine Großmutter sagte damals zu mir: „Ich weiß doch wer ich bin!“ Ich kann mich daran erinnern, dass ich diese Bemerkung meiner Oma wochenlang mit mir herumgetragen habe, und überall weiter erzählt.
Nun war dieses Totenbuch aber eben ein buddhistischer Text? Und wir Buddhistinnen gehen doch wohl eher davon aus, dass wir uns uns selber nur einbilden und nur aufgrund von Gewohnheit und aus einer gewissen Urangst heraus die Täuschung von einem stabilen Ich entstanden ist? Eben erst hatte ich doch von Atman und Anatman, also Selbst und Nicht-Selbst, in Buddhas Lehrreden gelesen und das auch ein bisschen verstanden? Immerhin hatte ich vorher monatelang Sartres: “Zuerst war Existentia und erst daraus entstand Materie“ verinnerlicht – und es hatte sehr lange gedauert bis ich ein wenig verstand, was er damit meinte, also wie er sich das möglicherweise vorstellte.
Ich hatte es hier doch mit einem buddhistischen Text zu tun, oder? War dieser erste Eindruck von mir, worum es im Totenbuch ging also ganz einfach falsch? Naiv? Oder war dieses Totenbuch für einfache und einfältige Buddhistinnen geschrieben, für die die Frage nach Selbst und Nicht-Selbst kein großes Thema war? Oder vielleicht auch gerade für sehr erfahrene und weise Buddhistinnen für die diese Fragen eben auch kein Thema mehr waren? Ich wollte das wissen und ich las immer wieder von vorne in meinem blauen, edlen Buch. Aber immer wieder verlor ich mich in diesem Text, der mehrmals in einer Art Psychodrama auszuschweifen schien, dem ich nicht folgen konnte und das ich nicht verstand. Da war die Rede von Beschützerinnen, die wie Menschen aussahen, aber Tierköpfe hatten, und leuchtende Meditationsbuddhas? Um das Geheimnis der sexuellen Vereinigung ging es irgendwie indirekt auch mehrmals. Natürlich wusste ich, dass ich nicht sonderlich smart war. Vielleicht war ich ganz einfach zu dumm, um das Tibetische Totenbuch zu verstehen? Dennoch wirkte das Tibetanische Totenbuch schon mit seiner bloßen Existenz weiter auf mich ein. Es lag da, prächtig, heilig und würdevoll. Ein richtiger Schatz! Hielt ich da eine Schatzkarte in Händen und wußte nur nicht wie rum ich sie halten musste?
Derweil pilgerte ich wieder in meinen Godesberger Buchladen – und wie immer amüsierten sich die Verkäuferinnen scheinbar wieder einmal köstlich über mich, den verrückten, langhaarigen, gutaussehenden Jugendlichen, für den sie immer wieder Buddhismus, Anthroposophie, Meditation und Yoga bibliographieren mussten. Gekicher und Gegacker? Ich vermute inzwischen, dass die Mädels nicht sonderlich gut im Bibliographieren waren. Sie schienen mir überfordert und überspielten das vielleicht? Aber ich war in den Mitte-Sechzigern eben auch rein äußerlich noch eine ungewöhnliche Erscheinung. Und sowieso waren es andere Zeiten? Und außerdem muss ich die geneigte Leserin daran erinnern, dass es damals überhaupt noch kein Internet gab. Daten wurden ausschließlich auf Papier, in endlosen Karteien oder auf Filmfolien geordnet. Gut aber war, dass sich in fast allen Büchern Angaben und Hinweise auf andere, verwandte Bücher – zum Beispiel solche, die die Autorinnen selber inspiriert hatten – fanden, und genau das half mir damals dann auch sehr weiter. Das war mein Glück und ein Segen, denn ich war wirklich ganz allein auf meiner Suche, ein Einzelkämpfer sozusagen!
Die Mädels fanden ein Buch über Yoga für mich: „Yoga für Jedermann“ und später dann noch ein Yogabuch mit dem spannenden Titel „Pranayama“, vom selben Autor. Ich dachte, dass es erst einmal gut sein könnte, mit dem Körperlichen anzufangen – solange die Ohren und Augen und die anderen Sinne noch funktionierten – und diesen physischen Körper genauer zu erforschen. Und genau darum schien es mir beim Yoga damals zu gehen, und das fand ich erst einmal auch bestätigt.
Ich sollte erst einmal meinen eigenen Körper gründlich erforschen.
Ich musste mich in die Welt des Yoga ganz alleine einarbeiten, und das war recht mühsam. Damals gab es noch nicht an jeder Ecke eine Yogalehrerin. Das erste Yogabuch beschrieb verschiedenen Körperhaltungen, die man einnehmen sollte. Jeder Übungszyklus am Morgen begann mit einem sogenannten Körper-Scan. Man legt sich hin und macht sich dann die einzelnen Körperteile nacheinander bewusst, lenkt also das Bewusstsein von einem Körperteil zum nächsten. Also: Zehen, Füße, Waden, Unterbein, Knie, Oberschenkel und so weiter bis zum Scheitel. So ging ich also jetzt erst einmal täglich den ganzen Körper durch. Also eine Körper-Gewahrseinsübung: den Körper Stück für Stück bewusst machen und spüren. In den folgenden verschiedenen Yoga-Körper-Stellungen (Asanas auf Sanskrit) nach diesem Körper-Scan, hätte ich – aus heutiger Sicht – damit fortfahren können, ganz bewusst zu bleiben für Details und in mich hineinzuhorchen, aber tatsächlich schlief ich in den verschiedenen Körperstellungen regelmäßig minutenlang ein. Ich versank in Träumen, Phantasien und Gedanken und das immer wieder in jeder Einzelnen der neun täglichen Körperhaltungen der sogenannten Rishikesh-Serie. Das verlängerte die täglichen Yoga-Sessions erheblich, aber das konnte ich mir damals leisten, und ich fühlte mich gut dabei, weil ich etwas Konkretes machen konnte. Und das Verhältnis zu meinem Körper veränderte sich tatsächlich deutlich. Ich betrachtete diesen Körper jetzt mit mehr Respekt. Was für ein Wunderwerk? Mein Herz klopfte stark, und ich kontemplierte den Blutkreislauf. Wie genial. Bei Tag und Nacht blieb dieses Herz nicht stehen, und das Blut strömte immer weiter durch meinen Köper. Dann gab es dieses sonderbare Ernährungssystem, es machte hungrig, konsumierte, verdaute und organisierte die Ausscheidung. Da war auch ein unglaublich fein gepixeltes, rasendes Kommunikationssystem: Die Sinne, Sehen, Riechen, Hören, Schmecken und so weiter. Ein elaboriertes Atmungssystem. Dann die Fortpflanzung! Alles sehr gut und effizient. Ein Alarmsystem das über Schmerzen, Verfärbungen, Dünnschiss und Ähnlichem Aufmerksam machte, wenn etwas nicht stimmte. Außerdem diverse, superintelligente Selbstheilungssysteme!
Nun war ich wie alle Jugendlichen in den Sechzigern sozusagen naturwissenschaftlich- materialistisch sozialisiert worden. Wenn jeder um dich herum von frühester Kindheit an davon ausgeht, dass Denken biologisch ist und im Kopf stattfindet, dann hält man automatisch diesen Kopf für den Sitz des Geistigen, des Denkens und des Willens. Und obwohl ich katholisch war, und wir in den Schulen sogar noch regelmäßig entsprechenden Religionsunterricht erhielten, war die Erziehung rein materialistisch. Niemand nahm Adam und Eva und den lieben Herrgott wirklich noch ernst. Selbst unsere Religionslehrerinnen hatten ein wissenschaftlich materialistisches Weltbild und sie verstanden Adam und Eva und den lieben Herrgott sinnbildlich und redeten übrigens nur sehr ungern darüber. Gott war unseren Lehrerinnen – unseren Vorbildern – wohl eher peinlich, und so etwas spürt ein Kind natürlich. Jede meiner Religionslehrerinnen konnte den Urknall viel besser erklären als die Liebe Gottes. Und dieser Umstand war ihnen nicht einmal bewusst? Eine Christin konnte ohne Weiteres erklären, dass Bewusstsein und Intelligenz ursprünglich Zufallsprodukte von Materie waren – dass also quasi da irgendwo im biologischen, energetischen Wandel und Streben vieler Universen, rein zufällig eine Frage entstanden war so wie zum Beispiel: Wo bin ich? Und daraus hatte sich dann im Laufe von Jahrtausenden und der Evolution alles Weitere bis zur heutigen Menschheit hin entwickelt? Also rein zufällig. Und unsere Lehrerinnen empfanden dabei keinen Widerspruch zur biblischen Schöpfungsgeschichte, denn sie hielten sich für modern, und so etwas wie Gott und sein Sohn und ein heiliges Bewusstsein, das war doch symbolisch zu verstehen?

Aber zurück zu den Yoga-Körperübungen:
Die Wahrnehmung meines Körpers, und überhaupt mein Selbstempfinden und Selbstverständnis veränderten sich. Von großer Bedeutung waren dabei ganz sicher Ruhe und Langeweile im Zusammenhang mit Bewusstsein. Dadurch, dass ich bei den täglichen Yogaübungen so viel Zeit einfach bewegungslos in den verschiedenen Asanas verweilte und es ansonsten keine Ablenkungen gab, wuchs ich mehr und mehr in eine Art ungreifbare Weite hinein? Das war so magisch wie es andererseits auch langweilig war. Aber meine Neugier überwog. Diese Offenheit und Weite? Wieso sprach niemand darüber? Das war doch phänomenal und ungewöhnlich? Es gab da scheinbar ein ganzes Universum an ungreifbaren Aspekte des Seins, für die ich nicht einmal Namen hatte, weil nirgendwo darüber gesprochen wurde. Bewusstsein war einerseits ungreifbar, aber gleichzeitig doch auch berechenbar, ungefähr so wie ein zahmes Haustier: Bewusstsein hatte zwar seinen eigenen Willen und ging oft seine eigenen Wege, aber mit etwas Geschick konnte man es lenken und leiten, falls es gerade in Stimmung war und eben nicht gerade einfach herumspinnen wollte. War es das, worum es im Yoga ging? Meine eher arrogante, wissenschaftliche Weltsicht – „Ich weiß, wie die Welt funktioniert“ – zerbröckelte jedenfalls mehr und mehr. Was steckte eigentlich hinter alle dem? Was war die treibende Kraft oder der Sinn von mir, meinem Sein und Bewusstsein, den anderen Wesen um mich herum und der ganzen Welt überhaupt?
Wer diesen Körper und dieses Bewusstsein wissenschaftlich betrachtet, bekommt wissenschaftliche Antworten. Aber man konnte ebenso einfach eine Körperhaltung einnehmen und versuchen sich wie ein Tiger zu fühlen? Oder wie ein Pfau oder wie eine Königskobra? Und das Denken und die Suche nach Erklärungen konnte man dabei sogar einfach loslassen. Tänzerisch. Eine Tänzerin übt ihre Tanzschritte ein, aber wenn es dann einen Auftritt gibt, dann vergisst sie alle technischen Details und lässt‘s einfach fließen. So wollte ich es mit dem Yoga auch halten. Aus heutiger Sicht war ich erstaunlich offen dafür, Mühen auf mich zu nehmen und mich regelmäßig und immer wieder anzustrengen.
Rudolf Steiner schien ähnliche Probleme gehabt zu haben wie ich, und entschied sich in seinem Buch „Wie erlangt man Erkenntnisse der höherer Welten“ zwischen einem grob-stofflichen Körper-Leib, einem Astralleib und einem Ätherleib zu unterscheiden. Das klang spannend und war auch erst einmal sehr hilfreich! Verbargen sich da vielleicht sogar die Antworten auf meine Fragen nach dem Selbst beziehungsweise dem Nicht-Selbst? Hatte Rudolf Steiner die Antworten auf meine Fragen?
Ist dieser physische Körper tatsächlich durchdrungen von mehr oder weniger deckungsgleichen unstofflichen Körpern – also von einem Ätherkörper und einem Astralkörper? Beide falls nicht völlig unstofflich, doch zumindest sehr fein-stofflich?
Und wie hingen diese drei Körper zusammen?
Und dann tauchte natürlich schnell auch wieder die Frage auf: Was geschieht, dann wenn der grob-stoffliche Körper – der Körper-Körper – stirbt mit diesen beiden feinstofflichen Körpern?

Aber wie musste ich mir diesen Ätherkörper vorstellen?
Der Ätherkörper offenbart sich über Akupunktur, Tai-Chi, Yoga, Jin Shin Jyutsu und ähnlichen Energie-Techniken. Es war erstaunlich, wie greifbar dieser Ätherkörper wurde, wenn man sich die Zeit nahm über Energiearbeit mit ihm in Kontakt zu treten. Meine Jin Shin Jyutsu-Lehrerin Mary Burmeister wiederholte immer wieder: „Energiearbeit ist keine Technik, sondern Kunst.“ Und wirklich, wenn man sich für so etwas öffnet und sich Zeit dafür nimmt, dann werden Inspiration, Wachheit und Zauber regelrecht entzündet und entfacht. Es ist übrigens bemerkenswert, was für einen deutlichen Einfluss solche Energiearbeit auch auf den physischen Körper hat.
Wenn der Körper-Körper zum Beispiel Wehwehchen hat, dann kann man die leicht beeinflussen, indem man auf den Ätherkörper Einfluss nimmt. Das muss man natürlich erst einmal wissen, aber wenn man dann in die Welt des Ätherkörpers eingedrungen ist, die ein oder andere Methode erlernt hat, um zu harmonisieren und aktivieren, dann fragt sich fast jeder: „Warum hat mir bisher davon noch niemand erzählt? Wieso stoße ich auf diese offensichtlichen Möglichkeiten rein zufällig?“
Nun, eines der Probleme beim Umgang und der Erforschung dieses Ätherkörpers ist sicher, dass es viel Zeit und Geduld braucht, überhaupt erst einmal mit dem Ätherkörper in Kontakt zu kommen. Und in der westlichen Welt war damals das Wissen von der Existenz eines solchen Energiefeldes auch noch sehr neu! Und außerdem war Nabelschau verpönt. Wenn aber der Kontakt zum eigenen Energiefeld dann erst einmal da ist, denkt man gar nicht mehr darüber nach und nimmt sich die Zeit auf diesen Ätherkörper Einfluss zu nehmen, und das nicht unbedingt nur dann wenn es einem einmal schlecht geht. Aber eigentlich war es schon damals normal, gegen körperliche oder seelische Beschwerden einfach eine Tablette einzuwerfen (das dauert nur ein paar Sekunden), statt dass man sich in langen Sessions über die Atmung, das Bewusstsein, Imagenationen und Pulsiertechniken mit seinem Ätherleib in Verbindung setzt. Man kann auch einfach zur Akupunktur gehen, aber selbst das ist ja immer noch verhältnismäßig zeitaufwendig und will organisiert werden, auch wenn man sich dann selber gar nicht mehr in seinen Ätherkörper einfühlen muss sondern das einer Heilpraktikerin überlässt? Blindflug sozusagen?
Zurück zu der Frage: Was wird aus dem Ätherkörper, wenn der Körper-Körper stirbt? Akupunktur an einer Leiche macht doch keinen Sinn, und Atmung und Pulsiertechniken sind auch nicht mehr durchführbar. Also, es scheint offensichtlich: Der Ätherkörper verliert mit dem Tod des physischen auch seine Bedeutung?

Und der Astralkörper? Was war mit diesem von Steiner so bunt und dynamisch beschriebenen Astralkörper?
Vielleicht würde ich hier fündig werden, mit Antworten auf meine Fragen, was oder wer denn nach dem Tod noch wahrnehmen und erfahren kann. Vielleicht lebte dieser Astralkörper ja nach dem Tod weiter! So kam ich also endlich der ursprünglichen Frage danach was den eigentlich geschieht wenn ich sterbe, wieder näher, und danach worin denn nun also die Aufgabe des Tibetischen Totenbuchs besteht.
Notgedrungen musste ich lernen, mit Zweifeln und Unklarheiten zu leben. Hier war Geduld gefragt. Ich musste lernen, Eindrücke auch länger auf mich einwirken zu lassen, ohne den Zwang, gleich eine Erklärung parat zu haben, ohne sofort zuzuordnen oder zu definieren und zu benennen. Das kam meiner natürlichen Bequemlichkeit aber sehr gelegen. Aus heutiger Sicht würde ich sogar sagen, dass ich schon damals ein spiritueller Snob – oder ich behaupte jetzt einfach einmal vornehm ein „Künstler“ – war. Etwas dümmlich, aber gutaussehend, und einen gewissen Charme hatte ich wohl auch? In vieler Hinsicht sogar ein langsamer und fauler Versteher, aber ich war andererseits dann auch ehrgeizig und neugierig. Ich wurde damals sogar in gewissen Kreisen so wahrgenommen, als würde ich geheime Wege und Methoden kennen.
Okay, hochverehrte Leserschaft, an dieser Stelle auch aus Nachsicht einen Moment zum Verschnaufen. Wir setzen uns wieder zurecht.
Zu meiner Verteidigung kann ich sagen, dass ich eigentlich gute und direkte Fragen stellte, und auch dass ich einigermaßen aufrichtig und ehrlich mir selbst gegenüber blieb.
Zu diesem Astralköper gehören die Emotionen, Gefühle, Deutungen, spontane Eingebungen, Ängste, Hoffnungen, Erinnerungen. Also eine sehr vielschichtige Welt. Könnte aber eben dieser Astralkörper wirklich das sein, was wir als Selbst bezeichnen? Die Seele? Das Ich? Bot dieses Kräftefeld eben halt die Möglichkeiten dafür, sich als ein Ich zu fühlen und sich selber darin immer wieder zu bestätigen? Ich wollte das wissen! Ich wollte das endlich verstehen. Wo gab es die konkreten Antworten? Wieso war es so schwer sich selber einfach wahrzunehmen, eben als sich selber? Und weit und breit niemand, mit dem ich unbefangen darüber hätte reden können.
Gab es vielleicht einen Spiegel dafür?
Rudi beschrieb eine komplizierte und sehr bunte und beschwingte Chakra-Technik, um diesem Astralkörper näher zu kommen, aber das war mir damals wirklich noch fremd, und ich ging auch darin ganz schnell verloren. Von so etwas war ich damals noch Lichtjahre entfernt.
Durch meine Beobachtungen von mir und anderen – auf der Suche nach einem Selbst, stieß ich aber damals auf die „geheime Agenda“. Das war ein großer Moment! War diese geheime Agenda, die wir ja alle pflegen, vielleicht sogar das Ich selber? Es ist eines dieser offenen Geheimnisse, dass wir alle eine geheime Agenda haben. Sogar mit unseren besten Freundinnen teilen wir nie die ganze Wahrheit, sondern immer nur die Wahrheiten ab der zweiten Ebene, also der ersten Ebene über der geheimen Agenda?
Meine geneigte Leserin mag sich an dieser Stelle ruhig einmal wieder zurücklehnen und in sich hineinschauen und nach der geheimen Agenda suchen. Wenn man genau beobachtet, dann kann man erkennen, dass wir Menschen eigentlich ohne Ausnahme nie ganz ehrlich sind. Denke doch einfach einmal darüber nach, was für Geheimnisse du vor deinem Partner hast? Wir haben Hintergedanken. Eine geheime Agenda eben. Wenn uns niemand darauf aufmerksam macht, dann wissen wir das gar nicht. Es ist selbstverständlich. Und man muss sich selber ja auch wirklich sehr genau ansehen, um seine geheime Agenda überhaupt zu erkennen. Sie bleibt ungreifbar. Leute gebären sich beispielsweise sehr großzügig, wenn man aber daneben steht, merkt man, dass es der Person um die eigene Anerkennung geht und gar nicht um das Wohl der beschenkten Wesen. Oft sehen und wissen das alle Umstehenden sogar und nur die Spenderin glaubt an ihr großes Mitgefühl. Die geheime Agenda ist sehr geheim und nicht so einfach festzulegen. Bei manchen Menschen steckt Angst oder Unsicherheit dahinter, oder man will seine Gier verbergen oder hat Angst vor Verletzungen. Die geheime Agenda tarnt sich gut. Wir machen endlich den Heiratsantrag, und lassen uns sogar einiges dazu einfallen, aber im Grunde wollen wir nur endlich Ruhe haben, sichere Verhältnisse schaffen, und ungeniert die Pantoffeln auspacken und fernsehen. Als ich erstmals von der geheimen Agenda gelesen hatte, ließ es mich nicht mehr los. Ein offenes Geheimnis. Super interessant und mehr und mehr wurde mir auf der Suche nach mir selbst bewusst, wie bedeutungsvoll und dominant sie war. Nichts stand unserem Ich näher als eben diese geheime Agenda!
Übrigens kam ich meinem Selbst auch in meinen zahlreichen LSD-Sitzungen nicht wirklich näher, denn wenn man mit LSD arbeiten will, muss man loslassen können. Wenn man auf LSD zu sehr verspannt oder dirigieren will oder sogar angespannt sucht, kann das ernsthafte schädliche Folgen haben. Ich habe damals immer wieder einmal Bekannte von LSD-Trips in der Psychiatrie besucht. Nicht jeder kann so einfach loslassen und möglicherweise unbewusste Verwicklungen in dichten Traumata können unter LSD ungesunde und fatale Folgen haben. Auf einem LSD-Trip tut man also gut daran, seine geheime Agenda einfach gewähren zu lassen, sogar geradezu zu pflegen. Ganz einfach zum Selbstschutz!
Und immer wieder diese unberechenbaren Emotionen? Auch diese Suche musste man kunstvoll gestalten, tänzerisch und ohne Zwänge. Der Nachteil war dabei nur, dass man auch keine konkreten, greifbaren Ergebnisse erhielt. Gut, ich hätte versuchen können mein Ich zu malen, aber ich war kein guter Maler, oder es zu tanzen, aber ich bin leider nie auf die Idee gekommen?
Es war zum verrückt werden.
Im Grunde stolperte ich immer wieder über meine grundlegend wissenschaftlichen, über Jahre zu Hause, in den Schulen und der Gesellschaft antrainierte Vorgehensweisen, ohne es selber überhaupt zu merken (so wie Rudolf Steiner selber übrigens auch). Wir waren Opfer des wissenschaftlichen Zeitalters. Die Medien spielten dabei damals noch keine große Rolle. Es gab nur zwei TV-Sender, und ab Mitternacht zeigten beide ein Testbild.
Es blieb trotz der neu entdeckten Weiten und Psychedelika im Grunde also eine Suche nach Essentia, nach Materie? Nach des Pudels nacktem Kern?
Bei alle dem hielt ich immer noch die Version \des Tibetanischen Totenbuchs mit den 400 Anmerkungen in den Händen. Auch hier türmten sich auf einzelne konkrete Fragen dann jedes Mal immer weitere Fragen. Da kamen immer wieder neue Aspekte in mein Leben – nennen wir sie ruhig Einsichten – aber die Situation wurde dabei trotzdem nicht etwa überschaubarer. Im Gengenteil!
Gerne versuchte ich zu rekapitulieren. Zum Beispiel: Wenn das Leben den Körper verlässt, dann sprechen wir von Tod. Darum ging es: Was kann ich tun, wenn dieser Körper stirbt? Und dazu gibt dieses Tibetanische Totenbuch tatsächlich ja sogar sehr konkrete Antworten. Aber genau da, wo es spannend wurde, da verstand ich leider dieses Totenbuch nicht mehr. Ich musste mir vorstellen am Lager einer Sterbenden zu sitzen und den Text des Tibetischen Totenbuchs laut vorzulesen. Aber es blieb die Frage: wie soll eine Verstorbene mich hören? Andererseits heißt es da, dass das Bewusstsein möglichst am Scheitel den Körper nach dem Tod verlassen sollte. Das war zwar konkreter, schien mir allerdings zu unwissenschaftlich. Die geheime Agenda hinter den Unterscheidungen zwischen drei Körpern bei Rudolf Steiner fußte auf dem wissenschaftlichen Weltbild. Steiner wandte wissenschaftliche Methodik an. Vielleicht hat der Rudi seine wissenschaftliche Befangenheit dann 1912 übrigens auch selber erkannt. Die Betrachtungen dazu würden hier aber zu weit führen. Jedenfalls habe ich diesen Zwang, dieses wissenschaftliche Weltbild, dann sozusagen 1970 dann auch endlich durchschaut.
So mein hochverehrten Leserinnen:
Jetzt kommt´s also! Schluss mit Sezieren, Definieren, Ordnen, Unterscheiden und Vergleichen. Es war Zeit meine ersten Gehversuche in ein magisches Weltbild zu unternehmen:
Ich musste einen ganz neuen, frischen Blick auf mein Weltbild bekommen! Okay, drei Körper zu unterscheiden, war sicherlich weiterführend, aber es eröffnete kein wirklich neues Weltbild. Das war immer noch extrem und typisch wissenschaftlich. Ich verhielt mich dabei ja fast wie ein Mediziner. Nun wird das wissenschaftliche Weltbild ja auch von klein an anerzogen, quasi vom Augenblick, an dem Osterhase und Weihnachtsmann sterben, wird dieses Weltbild gepredigt, und über Jahre von den Menschen und Medien um einen herum bekräftigt und geprägt. So etwas wird man nicht so leicht wieder los.
Wir entzaubern alle Phänomene, indem wir ihnen Namen geben. Damit können wir sie dann zwar beherrschen und zuordnen, aber sie haben wunderschöne Aspekte – ihr Strahlen – dann für immer verloren.
Für mich waren die Auslöser für diesen Wandel, das Wiederfinden von Freude und Glück.
Ja, ich gestand mir ein, dass ich zunehmend unerklärliche Freude und ungreifbares Glück empfand. Zum Beispiel wenn ich fasziniert über eine Landschaft oder auf ein Kunstwerk schaute, oder Musik genoss, und immer, wenn sich etwas vertiefte, sich neue Dimensionen fanden, dann war da in mir oft immenses Entzücken, Begeisterung und Freude? Ich erlebte damals auch erstmals den Zauber einer Liebesbeziehung und Sex. Das war fantastisch! War ich – war mein Ich – vielleicht ganz einfach Freude? Ist das Selbst, Atman, die Seele ganz einfach die Möglichkeit Freude zu empfinden oder sogar diese Freude selber? Aber dahinter schien doch immer noch ein Suchender und Zweifler zu stecken, ein Genießer, ein Trittbrettfahrer, eine Agenda?
Ich musste mich radikal verändern. Ich wollte einen freien Blick bekommen. Das ließ mir keine Ruhe mehr: Ich musste selber ins Morgenland pilgern? Ganz konkret bei den Tibetern auf die Suche gehen.
Ich meldete mich also bei der Handelsschule ab und wurde für genau ein Jahr Fabrikarbeiter, um dann mit dem gesparten Geld eine Reise ins Morgenland zu finanzieren.
Es war eine herrliche Zeit! Ich blickte wirklich sehr hoffnungsvoll nach Indien und Nepal und im April 1973 ging es dann auch wirklich los.

Veröffentlicht von

Winfried Kopps

Winfried Kopps wurde 1951 im Rheinland geboren. Er kam schon sehr früh mit existentialistischer Literatur in Berührung. Die ersten Autoren waren Frisch, Eich, Huysmans, Nietzsche, Sartre und Camus, aber insbesondere wurde er von Hermann Hesse, Rudolf Steiner und LSD erzogen und beeinflußt. Mit 16 las er einen Text über Buddhismus und fühlte sich sofort tief verbunden. Mit 20 verdingte er sich als Fabrikarbeiter und verdiente genug Geld um eine 15-monatige Pilgerreise, Morgenlandfahrt, nach Asien finanzieren zu können. Darauf folgte eine zweijährige Einsiedelei in Spanien. In New Dehli las er die ersten Zeilen von Chögyam Trungpa Rinpoche und erkannte in ihm seinen Guru. Neben dem Studium und der Praxis des Buddhismus und der Shambhala Lehren unter der Leitung von Chögyam Trungpa Rinpoche und Sakyong Mipham Rinpoche, erforscht er weiterhin begeistert viele verschieden religiöse Traditionen. Er ist Vater von zwei erwachsenen Söhnen und verdient sein Geld als Unternehmensberater.