6. – Drama am Hofe

Guten Morgen liebe Leute!

Eine Szene aus Shambhala:

Sie war so zart; sie war so sanft; sie war so seiden; sie war so leicht, und jetzt weinte sie auch noch. Ich sah zu meiner Puppe Käthe hinüber und die war bei aller Betroffenheit auch verärgert: „Haben wir Kindermädchen, damit die sich um uns kümmern, oder sind wir jetzt etwa für das Wohlergehen der Kindermädchen zuständig?“ Käthe sprang vom Tisch herunter, ging herüber zu Melissa, und hopste auf ihren Schoss. Die wischte sich mit einer Hand die Tränen weg und versuchte ihre Fassung wiederzugewinnen. Melissa war nicht nur zerbrechlich wie ein Schmetterling, sondern sie kleidete sich auch so: um festere Stoffe schwebten ganz leichte feine Gewebe, getragen von Rosa- und Hellbleu-Tönen. Käthe schaute auf Melissas Finger und sah das ganze Malheur: Einer der langen, spitz zulaufenden Fingernägel war quer eingerissen. Ich entschied sofort, dass der nicht mehr zu retten sei, lief zu meinem Schreibtisch und zog den kleinen Nagelknipser aus einer der Schubladen. Den brachte ich Melissa. Da konnte die sich endgültig nicht mehr beherrschen und sie weinte laut auf: „Was soll ich denn jetzt machen? So kann ich doch nicht herumlaufen!“ und nach einem schluchzenden nach Luft schnappen: „Wäre es nicht besser, ein Pflaster darüber zu kleben?“ Käthe rieb mit ihrem Köpfchen tröstend an Melissas Bauch und spielte mit einem Händchen in den seidenen Tücherfalten. Ich konnte den Grund für diese Aufregung und den Schmerz nicht wirklich nachvollziehen, aber die Tränen waren echt und trafen mich, und es fehlte nicht viel und ich hätte mit geweint. Mir kam: „Ein Ozean der Tränen“ in den Sinn. Wo hatte ich das nur gehört?
Obi Van, der graue Schoko-Labrador war wohl irgendwo in der Nähe gewesen und aufmerksam geworden. Jetzt schaute er zur Tür herein. Blieb aber draußen vor der Türschwelle, wie immer unglaublich aufrecht und vornehm! Ich glaube Obi Van ist das majestätischste Wesen im ganzen Haus. An vielen Tagen haben wir ja eine HMT, eine Haupt-Managerin-des-Tages. Oft besorgt das auch ein Mann. Aber wenn meine Eltern nicht da sind, ist dieser Posten oft tagelang gar nicht besetzt. Dann ist der Haushalt lockerer. Eine Managerin-des-Tages versucht acht Stunden lang den Überblick über alles, was in und rund um das Haus geschieht, zu behalten. Sie trifft sich morgens mit Butler, Koch, Instandhalter, Gärtner und so weiter und so weiter. Dann wird der ganze Tag durchgeplant, so gut das geht und von da an hockt diese Managerin irgendwo wie eine Spinne im Netz und versucht, alles geschmeidig zu koordinieren, mit „unsichtbarer Präzision.“ Manche besuchen ab und zu auch mal Käthe und mich, wenn wir gerade keinen Unterricht haben. Bei uns können sie sich etwas gehen lassen und sich erleichtern. Sie tragen eine große Verantwortung, die ihnen schwer auf den Schultern lastet. Entsprechend sind diese Schultern dann auch so verhärtet und verkrampft wie mehrere Schichten Anmachholz. Einige lassen sich gerne von mir massieren, auch die Männer. Käthe darf da dann auch helfen. Das sind große Momente für uns, wenn wir uns gemeinsam nützlich machen können. Für Freundinnen gibt es nichts Schöneres als gemeinsam an etwas zu arbeiten. Wir kneten und klopfen an dem Anmachholz herum. Dazu müssen wir unsere Finger mit Energie aufladen und wie Krallen halten und alle sagen, dass ich einen ungewöhnlich festen Griff habe. Käthe und ich lassen uns nicht anmerken, wie weh das manchmal tut, besonders dann, wenn die Schultern hitzig oder sauer ausstrahlen. Management ist schwer, steigt in den Kopf und sinkt in die Schultern!
Aber nicht die Manager sondern Obi Van ist der eigentliche Oberaufpasser des Hauses, und zwar sieben Tage die Woche und vierundzwanzig Stunden am Tag. Er rennt eben nicht nervös mit einem Klappboard herum und studiert seine Notizen, stolpert, flucht oder stößt an, sondern er behält Haltung, die Nase in die Luft wie eine Hightech-Antenne. Wenn ich ihn anschaue und studiere und merke, was ihm Unwohlsein bereitet, wird er mir zum Bildschirm durch den ich mich umschauen kann, und, wie er, Ereignisse und Bewegungen bis in die Häuser der Nachbarschaft wahrnehmen. Nun ist es aber nicht so, dass er losrennt, wenn er merkt, dass in der Küche etwas anbrennt oder im Keller ein Wasserhahn tropft. Überhaupt nicht. Er bleibt ganz cool. Vielleicht steigen seine Haare ganz leicht an. Vielleicht einen Hauch! Ansonsten bewegt er sich bei solchen Gelegenheiten eher noch gebremster, noch bedächtiger. Dabei muss ich daran denken, wie Papi mich fragte: „Mein Drachenkind, wie schüttelt man einem Baum die Hand?“ – Vorsicht! Wenn Papi solche Fragen stellt, dann werde ich besonders wach. – Ich versuchte mich also in einen sehr alten Baum einzufühlen. Wie mag das sein? Bäume bewegen sich und wachsen ganz ganz langsam und allmählich. Sie sind sehr hart aber doch elastisch. Nur ein heftiger Sturm kann die Äste so zum Schwingen bringen, dass es entfernt an Händeschütteln erinnern könnte. Hmm. Schließlich gab ich zur Antwort, dass ich mich an den Stamm andrücken würde, meine Arme darum legen und in dieser Haltung ganz lange still verweilen wollte und ihn lieb halten. Papa genießt es, über meine Antworten ewig lange nachzudenken, wenn er etwas mit ihnen anfangen kann. Ich glaube, dass er in solchen Momenten besonders glücklich ist. Ich habe ihn bei solchen Gelegenheiten sogar schon weinen sehen – ein bisschen. In diesem Fall meinte Papa, dass der Baum sich darüber sicher freuen würde, aber um mit einem Baum persönlichen Kontakt zu machen, wie mit einem Menschen beim Händeschütteln, oder beim Segnen, dazu bräuchte man mehr Zeit als die aller längste Umarmung. Viel mehr Zeit noch als viel Zeit! Deshalb wähle man am besten sorgfältig ein mindestens dreizehn Meter langes Schiffstau, möglichst ein gebrauchtes mit Charakter und Erfahrungen, eines das schon etwas von der Welt gesehen hat. Das sei besser als ein neues aus dem Shopping Mall, und dieses Seil lege man nun bedächtig und aufmerksam um den Stamm, ungefähr in der Höhe des eigenen Bauches. Wenn man dann das Seil mehrere Male um den Baum geschlungen habe und nur noch zwei Enden von etwa einem halben Meter übrig seien, dann mache man Knoten. Aber diese Knoten hätten es in sich, meinte Papa. Das Seil würde viele Jahre um den Stamm gewickelt bleiben, damit auch wirklich eine Berührung stattfinden könne, und deshalb müssten auch die Knoten entsprechend sein, nicht fest aber es müssten magische Knoten sein. Papi hat mir dann versprochen, mir bald einiges über Knoten beizubringen, aber wahrscheinlich wird er einen „Freund“, einen befreundeten Lama oder Geistlichen bitten, mich darin zu unterrichten. So läuft das eigentlich immer. Papi hat selten Zeit für mich! Das macht mich wütend, wenn ich nur daran denke!! Er hat nie Zeit für mich!!
Obi Van erinnerte mich in diesem Moment, als er da so draußen vor dem Türrahmen stand und nur einfach durch seine Gegenwart etwas Ruhe in unser kleines Drama brachte, an einen Baum, mit dem ich Freundschaft geschlossen habe, dessen Hände ich schüttele, der mein Seil trägt. Er schien den Raum mit tausenden, winzigen Fragezeichen zu durchdringen, alles wie mit Radar abzutasten, auf typische Hundeart. Dabei verzog er keine Miene. Ich glaube er tippelte ein wenig auf der Stelle, nur Millimeter, aber sogar das so bedächtig, als würde er sich wie ein Schauspieler seiner Rolle bewußt sein.
Melissa hatten wir beruhigt. – Puh! – Sie hatte kleine Stückchen des angebrochenen Nagels abgeknipst, bis er wieder rund und gleichmäßig aussah und fragte jetzt nach einer Feile(!).
Obi Van wandte sich ab und man hätte diese Bewegung leicht als Arroganz gegenüber kindischen Problemen auslegen können, aber ich glaube das nicht. Ich glaube Obi Van befindet sich jenseits von Überheblichkeiten, aber ganz sicher kann ich mir da natürlich nicht sein.
„Jenseits“ – da war das Wort wieder. „Beyond“ sagten sie hier im Königreich. Ein sehr sehr schwieriges Phänomen. Ach herrje – und „Phänomen“! Heute bleibt aber wieder einmal kein Stein auf dem anderen.
Bei Mutter im Bad ist eine Nagelfeile………………..

Ciao ciao
Euer Winni Quijote

Veröffentlicht von

Winfried Kopps

Winfried Kopps wurde 1951 im Rheinland geboren. Er kam schon sehr früh mit existentialistischer Literatur in Berührung. Die ersten Autoren waren Frisch, Eich, Huysmans, Nietzsche, Sartre und Camus, aber insbesondere wurde er von Hermann Hesse, Rudolf Steiner und LSD erzogen und beeinflußt. Mit 16 las er einen Text über Buddhismus und fühlte sich sofort tief verbunden. Mit 20 verdingte er sich als Fabrikarbeiter und verdiente genug Geld um eine 15-monatige Pilgerreise, Morgenlandfahrt, nach Asien finanzieren zu können. Darauf folgte eine zweijährige Einsiedelei in Spanien. In New Dehli las er die ersten Zeilen von Chögyam Trungpa Rinpoche und erkannte in ihm seinen Guru. Neben dem Studium und der Praxis des Buddhismus und der Shambhala Lehren unter der Leitung von Chögyam Trungpa Rinpoche und Sakyong Mipham Rinpoche, erforscht er weiterhin begeistert viele verschieden religiöse Traditionen. Er ist Vater von zwei erwachsenen Söhnen und verdient sein Geld als Unternehmensberater.