Seidelbast

Guten Morgen liebe Leute,

so im Alter von circa 12 Jahren verehrte ich einen meiner Lehrer ganz besonders, den Lehrer Kunze. Er war Deutsch- und Klassenlehrer, aber das Gymnasium war ganz neu und so sprangen die Lehrer füreinander ein, auch wenn in anderen Fächern Unterricht gebraucht wurde. Im Klassenzimmer stand ein Klavier und ab und zu setzte sich der Kunze ans Klavier und stimmte Seemannslieder an. Kunze war zur See gefahren und wusste wovon er sang. Wir schmetterten also: „Der Störtebecker ist unser Herr, von Seeräubers Michel begleitet……“ Deftige Texte! Und das Klavier wackelte und wogte, wenn Kunze so richtig los legte. Unser eigentlicher Musiklehrer ging nach so einem „Exzess“ bei nächster Gelegenheit an das Klavier berührte es tröstend und schaute es stirnrunzelnd, mitleidig an, so als sei es misshandelt worden.
Es war eine Klassenfahrt geplant, eine Woche auf Burg Blankenberg (?). Am letzten Tag bevor die Fahrt los gehen sollte, erklärte uns Kunze, er habe ein kleines Lied, das er gerne mit uns einüben würde, es sei aber sehr kompliziert und wir sollten uns Mühe geben. Es war ein Liebeslied. Vorher erklärte er uns die Zeilen des Liedes und ihre Bedeutung, aber wir verstanden nur teilweise worum es ging. Dann legten wir los und übten Zeile für Zeile, aber es wollte nicht gelingen. Da ging es um ein kleines Brieflein und um blühenden Seidelbast, wir hatten keine Vorstellung davon wie Seidelbast aussah, aber viel schlimmer, das Lied war rhythmisch so kompliziert, dass wir es einfach nicht hinbekamen. Die Melodie war allerliebst und die komplizierten rhythmischen Sprünge machten es lustig, obwohl es ein trauriges Lied war. Da war ein Wegesrand und etwas Schnee und Kälte? Wir strengten uns wirklich an, aber wir verstanden nicht und es klappte nicht und schließlich gaben wir verkrampft und erschöpft auf.
Am nächsten Tag nahmen wir dann die Burg Blankenberg in Besitzt. Es war herrlich. Wir liefen lachend und quatschend durch das alte Gemäuer und jeder suchte sein Zimmer und die Badezimmer und jeder hatte etwas vergessen. Kurze AngstAttacken, weil weg von Zuhause, gab es bei einigen von uns, aber die vergingen immer wieder schnell, und wir waren glücklich und hier und da begann jemand vor sich hin zu summen und zu singen. Einfach so, weil wir glücklich waren, und zwar klang hier und da ein Zeile aus dem Lied um den Seidelbast auf. Und ohne es zu merken probierten und sangen immer mehr von uns mit. Wie ein Ohrwurm hatte das Lied von einigen Besitz ergriffen und ließ nicht mehr los und breitete sich aus: „Im Walde im Walde blüht der Seidelbast, im Walde im Walde blüht der Seidelbast…“ in Gedanken sangen immer mehr mit, dann lauter und es klappte plötzlich! Wir hatten den Rhythmus erfasst! Es war wie ein Wunder. Mehr und mehr stimmten ein. Jeder für sich und allmählich alle zusammen. Es war sehr magisch, denn das Schloss war groß und weitläufig und die Mauern mächtig und dick, aber dieses Lied wurde immer lauter und ergriff Besitz von Allem. Wir waren sehr verwundert darüber, was da mit uns passierte, überwältigt waren wir, ließen es aber zu und fühlten uns tief beseelt und glücklich und sangen schließlich aus vollem Hals zusammen. Es war ein Kanon und sogar das Wechselspiel funktionierte hier und da. Alle wurden immer mutiger und verspielter. Entzückende Soli hier und da. Eine ganze Zeit lang und dann sangen viele für sich leise weiter.
Ich vermute Kunze stand irgendwo hinter einer Tür und weinte.
Grüße euer Winni Quijote

Veröffentlicht von

Winfried Kopps

Winfried Kopps wurde 1951 im Rheinland geboren. Er kam schon sehr früh mit existentialistischer Literatur in Berührung. Die ersten Autoren waren Frisch, Eich, Huysmans, Nietzsche, Sartre und Camus, aber insbesondere wurde er von Hermann Hesse, Rudolf Steiner und LSD erzogen und beeinflußt. Mit 16 las er einen Text über Buddhismus und fühlte sich sofort tief verbunden. Mit 20 verdingte er sich als Fabrikarbeiter und verdiente genug Geld um eine 15-monatige Pilgerreise, Morgenlandfahrt, nach Asien finanzieren zu können. Darauf folgte eine zweijährige Einsiedelei in Spanien. In New Dehli las er die ersten Zeilen von Chögyam Trungpa Rinpoche und erkannte in ihm seinen Guru. Neben dem Studium und der Praxis des Buddhismus und der Shambhala Lehren unter der Leitung von Chögyam Trungpa Rinpoche und Sakyong Mipham Rinpoche, erforscht er weiterhin begeistert viele verschieden religiöse Traditionen. Er ist Vater von zwei erwachsenen Söhnen und verdient sein Geld als Unternehmensberater.